Das mysteriöse Pergament 01 - Begegnungen (German Edition)
Laute klangen völlig anders. Ein Gefühl
von Geborgenheit durchströmte ihn und die Schmerzen ließen nach.
War das ein Engel? Nein. Engel hatten blonde, gelockte
Haare, so wie Constance. Constance, die engelsgleiche Constance. Würde er sie
je wieder sehen? Würde sie um ihn weinen, wenn er starb? Natürlich würde sie
das. Aber das brauchte sie nicht. Ein Teil von ihm würde immer in ihr
weiterleben. Das war ein tröstlicher Gedanke. Aber wer beschützte sie, wenn er
es nicht mehr konnte?
Ihm war, als spürte er ihre kleine zierliche Hand in seiner
Rechten und hielt sie fest. So hatte sie früher immer seine Hand gehalten, wenn
er Kummer hatte. Sie war das einzige Mädchen, vor dem er weinen konnte, ohne
sich dafür zu schämen. Tatsächlich war sie das einzige Mädchen, das ihn je
weinen sah.
Etwas Feuchtes näherte sich seinem ausgetrockneten Mund.
Wasser. Köstliches, Leben spendendes Wasser. Er war noch nicht tot.
Jetzt konnte er das Gesicht deutlich erkennen. Es gehörte
einem Mädchen, das sich besorgt über ihn beugte und seine spröden Lippen mit
einem feuchten Schwamm benetzte. Gierig saugte er, um das köstliche Nass
aufzunehmen.
Das Mädchen lächelte ihn an. Nein, sie war kein Engel, war
sie vielleicht eine gute Fee? Er war sicher, noch nie ein so bildhübsches
Gesicht gesehen zu haben. Das flackernde Licht spiegelte sich in ihren großen,
dunklen Augen, die umrahmt waren von langen Wimpern. Ihre Haare kitzelten seine
Wangen, als sie sich über ihn beugte und sie lächelte so zauberhaft, dass ihm
warm ums Herz wurde.
Plötzlich drehte sich das Gesicht von ihm weg.
„Er ist wach!“, rief eine helle Stimme. „sieh doch,
Großmutter. Er ist aufgewacht.“
Er wollte sich aufrichten, aber der Versuch misslang
kläglich. Heftige Schmerzen durchzuckten jede Phase seines Körpers. Er schien
nur aus Wunden zu bestehen und keinen heilen Knochen mehr im Leib zu haben.
Arme und Beine schmerzten, seine Hüfte brannte wie Feuer und jeder Atemzug war
eine Qual. Stöhnend sank er auf das Lager zurück.
Plötzlich begann sein gepeinigter Körper zu zittern. Die
Hitze war einer eisigen Kälte gewichen, die ihn erschauern ließ. Er fühlte sich
elend und konnte nicht verhindern, dass seine Zähne aufeinander schlugen.
Das Mädchen legte ihre Hände auf seine nackte Brust und
augenblicklich durchströmte ihn eine wohlige Wärme. Er spürte eine unsichtbare
Kraft, die durch ihre Hände in seinen Körper strömte. Sie war wirklich eine
Fee. Die Schmerzen ließen merklich nach, und er entspannte sich etwas.
Er wollte fragen, wo er war, aber auch die Stimme versagte
ihm den Dienst. Nur ein undeutliches Krächzen entrang sich seiner Kehle.
„Bleibt ruhig liegen, bewegt Euch nicht, Herr“, hörte er
eine brüchige Stimme. Das musste die Großmutter sein.
„Ihr habt einige Rippenbrüche und Prellungen, dazu mehrere
Schnittwunden am rechten Bein. Aber die schwerste Verletzung ist eine
Stichwunde in der linken Seite, kurz unter den Rippen, die mussten wir nähen“,
zählte die Alte seelenruhig auf, als plauderte sie über das Wetter.
„Ach ja, und einen kräftigen Schlag auf den Kopf habt Ihr
auch abbekommen. Es ist wirklich ein Wunder, dass Ihr noch lebt.“
Dann näherte sie sich ihm mit einer Schale Flüssigkeit.
„Trinkt das.“ Sie hielt ihm das Gefäß an den Mund und Conrad trank gehorsam,
obwohl das Gebräu gallebitter schmeckte.
„Weidenrindensud und Mohnsaft“, hörte er die helle Stimme
des Mädchens. „Das lindert die Schmerzen und senkt das Fieber.“
Tatsächlich spürte er nach einiger Zeit kaum noch Schmerzen
und eine wohlige Müdigkeit breitete sich in ihm aus. Aber er wollte jetzt nicht
schlafen.
„Wer bist du?“, fragte er das Mädchen, welches wieder in
seinem Gesichtskreis aufgetaucht war. Seine Stimme klang wie ein Reibeisen,
aber wenigstens konnte er sich verständlich machen.
„Mein Name ist Caroline, aber alle nennen mich Line, Herr“,
antwortete das Mädchen. Sie sah ihn offen an und senkte nicht den Blick, wie es
für ein Mädchen niederen Standes schicklich gewesen wäre.
Das irritierte ihn, faszinierte ihn aber auch. Dies war kein
gewöhnliches Mädchen. Es war das Mädchen aus seinen Träumen, die aus seiner
Fantasie geborene, wunderschöne Fee, die durch ein Wunder zum Leben erwacht
war. Er wusste nicht mehr, was Wirklichkeit und was Traum war. Vielleicht lag
das an dem Mohnsaft.
„Und wer seid Ihr, Herr?“, fragte die schöne Fee ohne Scheu
und zeigte ihm
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