Das mysteriöse Pergament 03 - Heimkehr (German Edition)
längst verheilt, aber ihre verwundete Seele
erholte sich nur langsam. Oft war sie schweigsam und in sich gekehrt, manchmal
saß sie auf der Wiese, an einen Baum gelehnt und starrte vor sich hin, ohne
etwas von ihrer Umwelt wahrzunehmen. Nicht selten fuhr sie schreiend aus dem
Schlaf.
Wenzel hatte viel Einfühlungsvermögen und Hartnäckigkeit
aufbringen müssen, als er sie nach dem Kampf um das Gut erneut umwarb. Antonia
fühlte sich schuldig, ihre Ehre war befleckt und sie war schwanger, ohne zu
wissen, ob das Kind von Wenzel war. Aber ihn schien das nicht zu stören und
schließlich hatte sie nachgegeben und Conrad richtete ihnen die Hochzeit aus.
Conrad und Caroline sahen ihren Kindern lächelnd nach, die
jetzt die Koppel erreichten. Solange Wenzel oder Antonia in der Nähe waren,
brauchten sie sich um die Sicherheit der kleinen Strolche nicht zu sorgen.
Auch Wenzel hatte sich verändert seit seiner Verletzung, die
sichtbare Spuren hinterlassen hatte. Seine Schulter war schief und er konnte
seinen linken Arm nicht mehr voll gebrauchen. Er war ernster geworden, obwohl
er seinen Sinn für Humor niemals verlor. Nach wie vor war er beliebt bei dem
Gesinde, wenn ihm auch die jungen Mägde keine schmachtenden Blicke mehr
nachwarfen. Dies war Antonia ganz recht, die seine Behinderung nicht im
Geringsten zu stören schien.
Die Kinder waren inzwischen bei dem jungen Stallmeister
angelangt, der sie gerade halbherzig rügte, weil sie schon wieder der armen
Dietlind weggelaufen waren, die gerade ihre massige Gestalt die leichte Anhöhe
zur Koppel herauf wuchtete. Dabei schwankte sie hin und her wie ein Schiff in
Seenot.
Als sie endlich bei der Rasselbande angekommen war, saßen
die Kinder friedlich im Gras und lauschten den Tönen von Wenzels selbst
geschnitzter Flöte.
Aus Luftmangel konnte Dietlind momentan nicht schimpfen und
ließ sich deshalb einfach neben sie auf die Wiese plumpsen.
Conrads Blick wurde von einem Bussard abgelenkt, der über
der Wiese schwebte und plötzlich pfeilschnell nach unten schoss, um seine Beute
zu schlagen. Er schaute über das weite Land. In der Ferne rumpelte ein
Kastenwagen über die Landstraße, Bauern arbeiteten auf dem Feld, ein Schäfer
hütete seine Herde. Es war ein idyllisches Bild.
Plötzlich zerriss ein Schrei die friedliche Stille. Es war
der Schmerzensschrei eines Kindes.
Auf der Wiese war Wenzel und Antonias siebenjähriger Sohn
Roland aufgetaucht, der auf dem abschüssigen Gelände ausgerutscht und gestürzt
war.
Line sah den Unfall voraus, denn wie immer wollte der Junge
schneller laufen, als seine kurzen Beine ihn trugen. Sie hielt vor Schreck die
Luft an, als der Junge sich mehrmals überschlug und wieder umknickte, als er
aufstehen wollte.
Sofort war die gleichaltrige Johanna bei dem Jungen und
kniete sich neben ihm nieder. Kurz nach ihr war auch Wenzel bei seinem Sohn.
Conrad sah Line an, wie gern sie zu dem Jungen gelaufen
wäre, um ihm zu helfen.
„Er ist ein Junge“, sagte er, „er wird es überstehen.“
„Und wenn er sich was gebrochen hat?“, wandte Line ein.
„Wird wohl kaum was Ernstes sein“, versuchte Conrad sie zu
beruhigen, „sonst wäre Wenzel nicht so ruhig.“
Tatsächlich saß sein Vater neben Roland und strich ihm über
den Kopf, während Johanna gerade beide Hände auf Rolands Knie legte.
Obwohl die Entfernung viel zu groß war, glaubte Conrad
dieses Lied zu hören, das ihn vor vielen Jahren ins Leben zurückgeholt hatte,
diesen mystischen Singsang, der so eindringlich war, dass sich Atmung und
Herzschlag an den Rhythmus anpasste, wenn man ihm lauschte.
Conrad wusste, dass Line ihren Kindern dieses Lied immer
vorsang, wenn sie krank oder traurig waren. Die beiden älteren kannten es
bereits auswendig, wenn auch keines den Text verstand. Aber sie kannten den
Inhalt und wussten, dass es ein trauriges Lied war, mit einem guten Ende.
Dem kleinen Roland schien es bereits besser zu gehen, denn
jetzt versuchte er erneut aufzustehen und dieses Mal gelang es ihm. Der Junge
mit den flachsblonden Haaren, die in alle Himmelsrichtungen abstanden, begutachtete
sein Knie und humpelte ein paar Schritte.
„Gott sei Dank, es geht ihm gut“, sagte Line.
„Eher Dank Johanna“, erwiderte Conrad, „ich glaube, das
Mädchen wird einmal eine gute Heilerin.“ Er sah Line grinsend an. „Genau wie
ihre Mutter.“
Line zeigte ihm ihr wundervolles Lächeln, das er so sehr
liebte. „Und Heinrich wird einmal ein mutiger Ritter werden, genau wie
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