Das mysteriöse Pergament 03 - Heimkehr (German Edition)
bekam keinen Bissen herunter.
Plötzlich scheute Li Chans Pferd, Hektor hob den Kopf und
wieherte. Conrad zog sein Schwert. Direkt vor ihnen stand zwischen zwei Bäumen
ein Keiler und schaute sie mit seinen kleinen Augen an. Es war ein sehr großes
Tier, mit imponierenden Stoßzähnen.
Die beiden Freunde blieben möglichst regungslos auf ihren
Tieren sitzen und versuchten, diese zu beruhigen.
Hektor scharrte mit dem Vorderhuf. Er war bereit, auf den
leisesten Fußdruck loszupreschen, so dicht wie möglich am Keiler vorbei, um
seinem Herrn den tödlichen Stoß zu ermöglichen.
Aber Conrad war nicht in Jagdstimmung. Er wollte den wehrhaften
König des Waldes nicht reizen und wartete ab, ob dieser angriff.
Eine Weile geschah nichts, dann hielt der Keiler seinen
Rüssel in die Luft und schnüffelte, grunzte zufrieden, drehte sich einfach um
und verschwand zwischen den Sträuchern, wo sich das Rascheln langsam entfernte.
Zwischen den Bäumen wurde es bereits dunkel und es war immer
schwieriger, etwas zu erkennen. Bald konnten sie nicht mehr weiter, ohne zu
riskieren, Lines Spur ganz zu verlieren. Jetzt begann Conrad, laut nach Line zu
rufen, denn sie konnte nun nicht mehr weit sein. Er brüllte so laut er konnte,
bis er heiser war.
Li Chan war abgestiegen und machte sich daran, ein Feuer zu
entfachen. Für diesen Tag war die Suche vorbei.
„Eines mir gefällt nicht“, sagte Li Chan versonnen.
„Was?“, fragte Conrad besorgt.
„Sie bewegt sich im Kreis. Wir gehen wieder Richtung
Kloster. Dort Arnulfs Leute sie werden zuerst suchen, falls sie es noch nicht
haben aufgegeben.“
Erstaunt sah Conrad zum Himmel, um den Sonnenstand zu
prüfen. Links von ihnen versank die Sonne bereits hinter den Bäumen, also
bewegten sie sich wieder in Richtung Norden.
Vom Kloster aus hatten sie sich zunächst in Richtung Osten
bewegt, dann in einem weiten Bogen Richtung Süden. Sie waren tatsächlich im
Kreis gelaufen, ohne dass er es bemerkt hatte.
VIII
Gefangen
Brachetmond Anno 1230
Geschwächt, hungrig und durstig stolperte Line durch den
Wald, der kein Ende zu nehmen schien. Irgendwo mussten doch Menschen sein, die
ihr helfen konnten. Lupus blieb jetzt dicht bei ihr, was sie sehr beruhigend
fand. Plötzlich wurde der Wolfshund unruhig. Er spitzte wiederholt die Ohren
und witterte. Vielleicht hatte er ein wildes Tier gehört, womöglich war der
Eber wieder in der Nähe, dachte Line.
Das Mädchen glaubte schon Halluzinationen zu haben, als sie
jemanden in der Ferne ihren Namen rufen hörte. Aber dann hörte sie es noch
einmal, diesmal etwas dichter. Sie drehte sich um und versuchte, der Stimme zu
folgen, die ihr seltsam vertraut vorkam. Spielten ihre Sinne ihr einen Streich?
Auch der Wolfshund wurde immer unruhiger. Er lief ein Stück
voraus, sah sich noch einmal nach ihr um und verschwand in der Dunkelheit. In
einiger Entfernung hörte sie ihn aufgeregt bellen. Dann verstummte er.
Unvermittelt stand sie ganz allein in der Dunkelheit,
umgeben von den Geräuschen des nächtlichen Waldes. Zwischen den Bäumen nahm sie
ein flackerndes Licht wahr. Sie wollte darauf zugehen, als es plötzlich
verschwand, verdeckt von einer Gestalt, die zwischen sie und das Licht getreten
war, keine hundert Schritte von ihr entfernt.
Obwohl sie es nicht glauben konnte, meinte sie, die Gestalt
zu erkennen. Lines Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie wagte nicht, sich zu
regen, aus Angst, die Erscheinung könnte sich wieder auflösen.
Neben ihr war Lupus wieder aufgetaucht, der plötzlich wieder
bellte, aber in eine andere Richtung. Aber jetzt war sein Fell gesträubt, die
Ohren angelegt und er bleckte drohend die Zähne.
Line wandte sich um. Dann ging alles sehr schnell. Überall
um sie herum raschelte es im Gebüsch. Männer sprangen auf sie zu, packten sie
roh an den Armen und rissen sie zu Boden. Line schrie und wehrte sich mit aller
Kraft. Aber es gab kein Entrinnen. Als sie sich nach der Gestalt umsah, die
zwischen den Bäumen gestanden hatte, war diese verschwunden. Ihr verwirrtes
Gehirn hatte ihr einen Streich gespielt.
Noch einmal hörte sie den Wolfshund bellen, gefolgt von
einem wütenden Schrei. Dann ging sein Gebell in ein Jaulen über, das
schließlich erstarb. Hatte ihr letzter Freund, der ihr geblieben war, seine
Treue jetzt doch noch mit seinem Leben bezahlt?
*
Erschrocken waren Conrad und Li Chan aufgesprungen, als
plötzlich der
Weitere Kostenlose Bücher