Das Mysterium der Zeit
spotten? Hat er die Ernte zu gleichen Teilen an alle Spartaner verteilt? Und wenn einer weniger geerntet hatte, nicht weil er Pech hatte, sondern weil er faul war? Wird der Spartaner, dem ein Teil seiner üppigen Ernte genommen wurde, nicht gezürnt haben? Noch etwas Wein bitte.«
Während Naudé trank, herrschte Schweigen am Tisch. Der sanfte Hardouin ergriff das Wort.
»Für die Weisen ist es sonnenklar, dass Gleichheit die Grundlage wahrer Freundschaft ist, und dass das Mein und das Dein von allen Mündern und mehr noch aus allen Seelen verbannt werden muss, damit die Gütergemeinschaft sich Mutter der Einigkeit und des Friedens nennen darf. Etwas anderes ist die Republik. In ihr gibt es keine Gleichheit und wird es nie geben, da es hier nicht um zwei Freunde geht, die beschlossen haben, einander zu lieben, sondern um die Menschen insgesamt, die schwer davon zu überzeugen sind, sich ohne Ausnahme gegenseitig zu lieben. Denn unser gemeinsames Leben auf der Erde ist uns vom Schöpfer auferlegt, es ist keine freie Entscheidung.«
Unter den Gelehrten breitete sich Verlegenheit aus. Sie alle dachten an das berühmte, vollkommene, unerreichbare Sparta unter Lykurg zurück, das Lehrer und Professoren ihnen seit ihrer Kindheit als Vorbild der perfekten Regierung gepriesen hatten.
»Man muss sich wirklich fragen, wie Lykurg es geschafft hat, alle Spartaner an einem öffentlichen Ort zusammen speisen zu lassen«, hub Hardouin mit seiner gewohnten Gutmütigkeit wieder an. »Es fehlt jede Information darüber, wie so etwas mit den Einwohnern einer ganzen Stadt bewerkstelligt wurde. Wir wissen weder, wie dieser Ort aussah, noch wo er lag, um welche Uhrzeit und in welcher Ordnung gegessen wurde, wer und wie er die Einkäufe machte, wer kochte und wie gekocht wurde. Unwichtige Details? Vielleicht, aber Plutarch berichtet, dass dieses Gesetz sehr lange Zeit befolgt wurde, und dass sogar ein König von Sparta, Agis, von den Richtern bestraft wurde, weil er das Gesetz gebrochen hatte.«
»Ein König, der bestraft wird, weil er nicht im Refektorium zwischen seinen Untertanen gegessen hat?«, fragtest du. Es war das erste schwache Zeichen der Anteilnahme an einer Diskussion, die dich bis |235| jetzt gleichgültig gelassen hatte, weil du mit deinen eigenen, unergründlichen Überlegungen beschäftigt warst.
»So berichtet der große Plutarch«, antwortete Guyetus mit tonloser Stimme. »Als der König nach seinem Sieg über die Athener nach Sparta zurückgekehrt war, bat er um seine Ration, weil er allein mit seiner Gemahlin essen wollte, aber der Richter verweigerte sie ihm, und als der König ihm nicht gehorchte, ließ er ihn bestrafen. Lykurg war unbestechlich.«
»Unbestechliche Herrscher gibt es zwar, aber sie kosten etwas mehr«, spottete Malagigi, dessen humoristische Ader von der gelehrten Diatribe geweckt zu werden schien.
»Alles, was auf den ersten Blick unglaublich erscheint, ist nur Frucht der Unwissenheit«, erklärte Schoppe barsch, der vergessen hatte, dass er einen halb abgenagten Katzenschenkel in der Hand hielt, weil ihn die zunehmende Heiterkeit von Barbello und Malagigi nervös machte.
»Ach, meint Ihr?«, fragte Hardouin. »Wie erklärt Ihr dann, dass es den Historikern zufolge in Sparta verboten war, nachts mit Fackeln, Laternen oder jeglichem Licht herumzulaufen? Was geschah im Winter nach dem Abendessen, da die Bürger alle gemeinsam zu Tausenden am immer gleichen Ort aßen – wie kamen sie zurück in ihre Häuser? Warum um alles in der Welt durften sie ihren Weg nicht beleuchten? Heute ist es verboten, des Nachts ohne Licht zu gehen, und das versteht sich, weil man damit Räuber fernhält. Warum hätte damals das genaue Gegenteil gelten sollen? Das erklären Seneca und Plutarch nicht.«
»Eines muss auch ich einwenden«, räumte Naudé ein, der sich bereits den Kragen mit Hühnersoße befleckt hatte (die Katzen hatte er nicht angerührt). »Was wird aus Lykurgs seitenlang beschriebenem Bemühen, alles gleich und gerecht zu ordnen, wenn es um die Frauen geht? Von Gleichheit und Gemeinschaftlichkeit zwischen Frauen und Männern hört man bei Lykurg gar nichts. Waren die Frauen als Besitzende den Männern gleichgestellt oder nicht, aßen sie zusammen mit den Männern oder nicht?«
»Femine nix gleich mit homini! Dann todo lo mundo Chaos und Unordnung. Femine bringen Unglück auf Schiff«, rief Mustafa aus, den diese kühnen Überlegungen entsetzten.
»Halt den Mund, Idiot«, brachte ihn der
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