Das Mysterium der Zeit
Schultern und schüttelte ihn.
»Die drei haben uns den Petronius entführt! Und was machen wir jetzt hier auf dieser Klippe mitten im Meer? Wir haben uns das einzige Stück aus den Papieren von Philos Ptetès vor der Nase wegschnappen lassen wie Idioten!«
»Lass mich los!«, brüllte Naudé nur und befreite sich mit einem heftigen Stoß von Schoppes Griff, worauf dieser ein paar Schritte rückwärts taumelte. »Glaubst du, ich weiß nicht, in welcher Situation wir uns befinden? Meine einzige Erleichterung wäre, dich nicht mehr krächzen zu hören, und ich bitte dich herzlich, deinem Freund Gabriel diesen Wunsch zu erfüllen.«
»Hört jetzt auf mit der Streiterei, wir haben Besseres zu tun!«, versuchte Hardouin zu schlichten, vergeblich von Pasqualini unterstützt.
Die gesamte Truppe der Gelehrten war vom Verschwinden der drei Bärtigen und der kostbaren Handschrift mit dem Gastmahl des Trimalchio wie betäubt, doch statt dass sie in Trübsal versanken, entlud ihre Enttäuschung sich in Wut und Gezänk.
»Das reicht jetzt! Diese Insel, diese Sirene, ist unser Grab!
Soll sich Gorgona rühren, / So daß in ihr jedermann ersäufe
!« Alle anderen übertönend, paraphrasierte Guyetus die bereits zitierten Verse der
Commedia
. Sein Wutausbruch ließ die ganze Gruppe erstarren. »Dies ist nicht einmal eine Insel, es ist das Schloss des Zauberers Atlante! Alles verschwindet und taucht ohne Sinn und Verstand wieder auf! Erst haben wir die Wahnsinnsreden von Nummer Drei geschluckt, dann den Unsinn dieser drei. Immer die Drei und immer Irre, die lügen! Ich werde verrückt, wir werden alle bald verrückt wie Orlando, der den Verstand verlor und ihn auf den Mond fliegen sah! Aber wir haben keinen Hippogryphen, der für uns zum Nachtgestirn fliegt, um unseren Verstand zurückzuholen, und erst recht nicht den
Satyricon
, den die drei Idioten mitgenommen haben!«
Unerwartet waren es nicht der Sanguiniker Schoppe oder der redegewandte Naudé, die in höchste Erregung gerieten, sondern der gefestigte Guyetus. Die deprimierende Atmosphäre auf der Insel und die unglücklichen Ereignisse hatten unbemerkt an ihm genagt wie |451| Holzwürmer, die unhörbar einen Stamm zerfressen, bis er knirscht und schließlich bricht.
»Alles ist hier durch Magie und Wahn verzerrt! Die Zaubereien des Magiers Atlante verwirrten sogar den tapferen Roland, der gekommen war, die vom Riesen entführte Angelica zu retten. Als er in den Zimmern eine Frauenstimme hörte, meinte Roland, es sei die seiner Angelica, aber Ruggiero hielt sie für die Stimme seiner Bradamante. Denn in dem Palast sieht und hört jeder, was er ersehnt, weil der Zauberer Atlante ihn so gebaut hat. Und ist es nicht auch auf Gorgona so, wo wir einen slawonischen Mönch verfolgen, den keiner von uns vieren je gesehen hat? Wir sind Sklaven des Slawonen geworden, hahahaha!« Er endete mit einem hysterischen Lachen.
»Beruhige dich, Guyetus, es wird uns schon noch gelingen …«, versuchte Hardouin ihn zu besänftigen.
Guyetus schlug ihm ins Gesicht, drehte sich auf dem Absatz um und stürzte sich tollkühn auf Kemal. Er packte ihn am Kragen und zog ihn zu sich heran.
»Es war Schicksal, dass wir in diesem Gefängnis für Wahnsinnige eingeschlossen wurden, wie es Orlando und Ruggiero widerfuhr! Korsar, antworte diesem Nazarener! Kennst du Ariost? Wie heißt es im
Rasenden Roland
?
Denen, die im Schlosse irrten / ihnen allen dieses wähnte / was jeder am meisten ersehnte
, hahaha!« Guyetus lachte aus vollem Halse, verdrehte die Augen zum Himmel und lockerte erst dann seinen Griff um den Hals des verblüfften Barbaresken. »Wir werden alle krepieren, versteht Ihr?«, brüllte er und starrte uns mit trüben Blicken aus dem Dunkel seines cholerischen Raptus an. Vom Mund rann ihm ein kleiner Speichelfaden herab, der aus ihm eine tollwütige Schimäre aus Mensch und Tier machte.
Da trat Kemal auf ihn zu und rammte ihm ohne Eile das Knie in den Magen. Guyetus stürzte zu Boden.
»›Seine Zunge ist äußerst gewandt, aber schwach seine Rechte im Kampf‹, dichtete Vergil.« Erbarmungslos verspottete Schoppe den armen Guyetus.
»Schluss jetzt!«, schrie ich und versuchte, den ungleichen Kampf zwischen dem Korsar und dem betagten Pariser Philologen zu beenden, indem ich dazwischenging, doch das war nicht mehr nötig. Guyetus lag friedlich am Boden und brummte mit rollenden Augen weitere Satzfetzen aus dem
Rasenden Roland
: »
Dieselbe Stimm’ und
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nämliche Person ist’s /
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