Das Mysterium der Zeit
und seine Freunde uns verlassen hatten. Guyetus saß auf der Eingangstreppe und wollte keine Gesellschaft. Sein Blick war leer, seine Züge gequält.
In der Küche gab es jüngere Spuren menschlicher Betätigung. Die Vorräte (Mehl, Korn, Wein, Würste) waren leider auf ein Minimum geschrumpft, das Schiff aus Livorno schien seit langem nicht mehr vorbeigekommen zu sein. Wir überließen die wenigen Vorräte den beiden Alten, Schoppe und Guyetus, die sie freilich mit recht jugendlicher Verve verschlangen.
»Das ist alles unglaublich«, bemerkte Pasqualini. »Es ergibt keinerlei Sinn, dass die drei uns ungehindert ihr Haus betreten lassen.«
»Das größere Problem ist, dass wir fast ohne Nahrung sind. Wir müssen Abhilfe schaffen«, sagte Naudé.
»Und wie?«
»Ich gehe auf Jagd.«
»Im Dunkeln?«, fragten wir staunend.
»Ich weiß natürlich, dass Vögel um diese Zeit schlafen, die Nachtvögel jedoch nicht.«
»Sollen wir etwa Uhus und Käuzchen essen?«, fragte Malagigi.
»Eventuell auch Schleiereulen und Wiedehopfe.«
»Wie ekelhaft«, rief Barbara aus.
»Seit meiner Reise durch Schweden kenne ich köstliche Rezepte. Geizig wie sie sind, essen die Schweden alles. Zum Beispiel setzten sie mir einmal eine zarte gebratene Eule vor, gefüllt mit Brotkrumen, Kräutern und Bohnen. Eine der wenigen guten Erinnerungen an dieses ungastliche, hässliche Land mit seiner gierigen, ungebildeten und vor allem unehrlichen Bevölkerung.«
»Es muss Euch in Schweden wirklich schlecht ergangen sein, wenn die beste Erinnerung an dieses Land Gerichte auf der Basis von Nachtvögeln sind«, spottete Kemal. »Jedenfalls bin ich dabei. Ich ekle mich vor gar nichts. Was nicht umbringt, macht fett, sagt Ali Rais immer. Aber wie wollt Ihr im Dunkeln schießen?«
»Lasst mich nur machen«, beschied ihm Naudé.
|455| DISKURS LXVII
Darin Naudé den dritten Buchstaben vorzeigt und eine sehr unangenehme nächtliche Jagd veranstaltet wird, die jedoch ein überraschendes Ergebnis zeitigt.
»Ihr habt Kemals Frage nicht beantwortet: Wie werdet Ihr im Dunkeln schießen?«, fragte ich Naudé, während wir über den Friedhof gingen, begleitet von dir, Atto, mit einer ramponierten, aber funktionierenden Öllaterne.
»Wer spricht vom Schießen? Wir haben nur einen Eimer und Schaufeln bei uns, wie Ihr seht«, antwortete er, als wir durch das altersschwache Friedhofstor schritten. »Wir begnügen uns mit dem, was die Natur uns schenkt.«
Der Bibliothekar Seiner Eminenz Kardinal Mazarins hatte Kraft und Optimismus zurückgewonnen. Er blieb stehen, um uns den Grund seiner guten Laune zu erklären, wobei er uns ein Papier unter die Nase hielt.
»Seht Euch das an, das lag im Haus der Bärtigen vor aller Augen. Ich habe mich hingesetzt und es zwei Schritte von mir entfernt auf dem Boden entdeckt.«
»Erstaunlich!«, rief ich erregt aus. »Das bedeutet vielleicht, dass diese Zettel und die Karte nicht von dem Mädchen ausgelegt wurden.«
»Genau«, bestätigte Naudé jubelnd. »Welches Interesse hätte diese Irre daran haben können? Natürlich hinterließ sie Spuren ihrer Anwesenheit in ihrem Haus und in der Torre Vecchia, wo sie häufig war. Aber warum hätte sie sich bis zur Piana dei Morti wagen sollen, um hier und da Buchstaben des Alphabets zu hinterlegen? Etwa für die drei schlafmützigen Bärtigen? Nein, ich glaube, dahinter steckt Philos Ptetès. Und er will dem Finder dieser Köder etwas mitteilen. Was er |456| uns sagen will, weiß ich nicht, aber es ist sehr wahrscheinlich, dass es mit seinen Handschriften zu tun hat. Und denkt mal nach: Trägt die Karte etwa nicht die Überschrift
Mysterium Thesauri
? Und hat unser lieber Mönch während seiner Reise nach Frankreich nicht hier auf Gorgona Station gemacht, nachdem er in Livorno vergeblich auf uns gewartet hatte? Ich meine, nachdem er Guyetus und Schoppe vergeblich erwartet hatte«, verbesserte er sich, da Philos Ptetès ja seinen Brief an die anderen Philologen, nicht an ihn geschrieben hatte. »Jedenfalls stehen wir jetzt vor dieser Situation.« Und er zog die bekannte Karte hervor.
»Man darf also annehmen, dass wir auch an den anderen Orten auf dieser Karte Buchstaben finden werden. Sieben Buchstaben insgesamt. Dann …«
»Dann, Monsire Naudé, habt Ihr gewonnen: Ihr besitzt das vollständige Geheimnis. Ich bewundere Euch wirklich«, sagtest du.
|457| Dein übertrieben einschmeichelnder Ton verriet, wie sehr du noch an der Verbindung zwischen der Karte und dem Schatz von
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