Das Mysterium der Zeit
philosophischen Erörterungen zu ergehen, eilte er von einem Ende Europas zum anderen. Auch im Winter, wenn die Straßen vereist waren, brach er vor dem Morgengrauen auf, wenn ihn die Kunde erreicht hatte, dass die lang gesuchte Handschrift, die angeblich unauffindbare Ausgabe oder die äußerste seltene Sammlung von Drucken sich in diesem oder jenem abgelegenen Städtchen befände. Viele sahen ihn mit Spinnweben bedeckt und am Staub fast erstickt aus den Speichern von Altwarenhändlern herauskommen, die zufällig dieses oder jenes kostbare Buch besaßen. Damit der Händler nicht erkannte, welchen Schatz er besaß, pflegte Naudé für wenig Geld das gesamte Geschäft zu kaufen. Er besaß den unfehlbaren Instinkt des Wilderers. Keine Frau, keinerlei Ablenkung, keinen anderen Gedanken im Kopf als Büchern nachzujagen, sie seinen Herren auszuhändigen und damit schließlich den Gelehrten zur Verfügung zu stellen.
Schon als Zwanzigjähriger hatte er Erfahrungen gesammelt, als er Monsire de Mesmes, dem Präsidenten des Parlaments von Paris, dieselben Dienste geleistet hatte. De Mesmes aber war dem Vorschlag des jungen Bibliothekars, seine ganze Sammlung für das Publikum zu öffnen, nicht nachgekommen. Enttäuscht war Naudé nach Italien |61| gegangen, zunächst nach Padua. Darauf hatte er elf Jahre in Rom im Dienst von Kardinal Di Bagni gestanden. Auch dieser war während seiner Zeit als Nuntius in Paris ein Besucher des Salons der Gebrüder Du Puy gewesen und hatte Naudé auf die wärmste Empfehlung der beiden hin angestellt. Nach dem Tod von Kardinal Di Bagni 1641 war er ein Jahr lang den Barberini zu Diensten und wurde dann von Mazarin, der soeben Nachfolger von Richelieu geworden war, nach Paris zurückgerufen. Ein wahrer Glücksfall für Naudé: Jetzt hatte er den wohlhabendsten und großzügigsten Herrn, den man sich in Frankreich wünschen konnte, denn der König war noch ein kleines Kind. Zudem hatte Seine Eminenz Naudé gestattet, seine unermesslich reiche Sammlung jeden Donnerstagnachmittag für das gelehrte Publikum zu öffnen. Außerdem wurden unter Leitung von Naudé Kopien sämtlicher wichtiger Handschriften aus der Sammlung des Kardinals angefertigt, um den Gelehrten, die donnerstags die Bibliothek aufsuchten, statt der Originale nur Kopien vorzulegen (man kann nie vorsichtig genug sein). Doch das war geheim, Atto hatte es nur zufällig während seiner Gesangssoireen am französischen Hof erfahren.
Im Mai 1645 war Naudé mit uns von Paris nach Florenz zurückgekehrt. Er sollte den Kopisten von Florenz, die für die Medici arbeiteten, eine Bibel des berühmten Gutenberg übergeben, von dem alle sagen, er habe den Buchdruck erfunden. Naudés Auftrag lautete, eine perfekte Kopie herstellen zu lassen, die dem Originaldruck täuschend ähnlich sah. Die Arbeit war mühselig. Kein Kopist oder Drucker in Frankreich oder in Rom war imstande gewesen, die Seiten Gutenbergs nachzuahmen. Denn die beweglichen Lettern, die er benutzt hatte, waren im Lauf der Zeit natürlich verlorengegangen. Doch die Kopisten der Medici bewirkten Wunder: nach einem Jahr war die Kopie fertig. Wir hatten vereinbart, dass ich ihm brieflich Nachricht gab, sobald er kommen konnte, um sie abzuholen. Leider war mein Brief während des Transports verlorengegangen, und ich hatte ihn ein zweites Mal schreiben müssen. Danach war er endlich nach Florenz gekommen, um Gutenbergs kostbare Originalbibel und die perfekt ausgeführte Kopie abzuholen. Auf seiner Rückreise hatte Naudé nur die Kopie mitgenommen, das Original hatte er mit drei berittenen Sonderkurieren des Heeres zu Lande nach Paris schicken lassen.
|62| DISKURS VI
Darin über das Misstrauen zwischen Gelehrten und über die Gründe desselben räsoniert wird. Auch wird der Brief eines geheimnisvollen Mönchs erwähnt.
Der Wind hatte abgeflaut, jetzt mussten die Ruderer sich in die Riemen legen.
»Hooolt auuus!«, rief der Galeerenaufseher, der Mann, der auf jeder Galeere die Ruderer mit Peitsche und Pauke antreibt. Einer der Bereitwilligen fluchte, sogleich unterstützt von einem Kameraden: Das Schiff habe seine Trimmung verloren, sagte er, denn bei der Abfahrt sei der Ballast im Kielraum schlecht verteilt worden. Der Antreiber antwortete, indem er die Peitsche knallen ließ, woraufhin das Brummen der Ruderer sofort verstummte. Wer auf einer Galeere rebelliert, lernt die Peitsche kennen und bekommt keinen Wein, die einzige Erleichterung von den unmenschlichen Mühen des Ruderns, die
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