Das Mysterium der Zeit
Auffassung gelangt, die erste der berühmten
Oden
des Horaz sei eine dreiste Fälschung.
Unter den Passagieren war auch Gabriel Naudé, der Bibliothekar Seiner Eminenz Kardinal Mazarin. Ein spritziger Mensch von vierundfünfzig Jahren, zungenfertig, stets höchst elegant gekleidet, der ebenfalls mit einer großen Bücherkiste reiste. Es hieß, er sei eine Art Schatzjäger im Auftrag des Kardinals, welcher ihn mit schwindelerregend hohen Summen ausstattete, damit er seltene Bücher und Handschriften, ja, ganze Bibliotheken für ihn aufstöberte. Offenbar zog er kreuz und durch Europa, um Bücher für Mazarin zu besorgen, dem es nicht an den nötigen Mitteln zu mangeln schien. Wir hatten Naudé bei unserem ersten Aufenthalt in Paris kennengelernt, als er schon seit zwei Jahren im Dienst des Kardinals stand. Schon damals haftete ihm ein ganz besonderes Charisma an, den Grund dafür werde ich im Folgenden erklären.
|59| NOTIZ
Darin von der Tetrade die Rede ist und von der maßlosen Leidenschaft des Gabriel Naudé für alte Bücher und Handschriften.
Gabriel Naudé war nämlich Mitglied der berühmten Tetrade, einer Gruppe von vier großen Geistern, den gelehrtesten, passioniertesten, brillantesten Köpfen von Paris, die vielleicht den Gang der Geschichte in Frankreich und nicht nur dort verändern konnten. Die anderen drei hießen Elia Diodati, La Mothe Le Vayer und Gassendi, und sie unterschieden sich sehr voneinander: Diodati war entgegenkommend und friedlich, Gassendi herzlich und feurig, La Mothe Le Vayer distanziert, Naudé schließlich begeisterungsfähig, aggressiv, streitlustig und redegewandt. Sie alle einte der Wunsch, sich zu präsentieren und gelobt zu werden, doch alle plauderten auch gern ungezwungen. La Mothe, der mit unfassbarer Leichtigkeit große Mengen an Schriften verfasste, beschrieb ihre gemeinsamen Abende in seinen
Dialogen des Orasius Tuberus
als heiteres philosophisches Gespräch. In diesem Text tritt nach dem Vorbild antiker Dialoge jeder der vier unter falschem Namen auf (Orasius Tuberus zum Beispiel ist La Mothe) und spielt ein Versteckspiel mit dem Leser. Ganz Paris las die
Dialoge
, die damit zur großen Bühne des geistreichen Quartetts wurden.
Die vier Freunde der Tetrade, grundverschieden und gleichzeitig seelenverwandt, liebten sich, disputierten über jedes neue Buch und jedes aktuelle Thema, stritten sich, hassten einander, versöhnten sich wieder und erreichten damit, dass ganz Paris von ihnen sprach. Ihre Lehrer waren Klassiker wie Cicero oder Seneca, Plinius oder Plutarch. Ihre Strategie war: das Geheimnis wahren, immer. Doch vor allem hatten sie ein gemeinsames Credo: den Hass auf allzu viel Glauben. Glauben an die Götter und an Gott, an Wunder, an Geheimnisse, an die Mythen und Legenden. Ihr Motto hatten sie dem vorsokratischen Griechen Epicharmos abgeschaut:
Nevi atque artus sapientiae sunt nihil temere credere
, ein vorsichtiger Glaube ist der Kern und das Gerüst der Weisheit. Sie hatten sich einen Kampfnamen gegeben: Die Starken Geister, oder auch
Les Deniaisez
, diejenigen, die schlau machen. Sie verachteten die Naiven, die Tölpel, die Abergläubischen, Bigotten und all jene, die bedenkenlos an die Unsterblichkeit der Seele glauben.
|60| Die philosophische Strömung des Pyrrhonismus machte bei ihnen Furore. Der Name rührt von dem griechischen Philosophen Pyrrhon von Elis her, welcher sich folgende Fragen stellte: Was sind die Dinge, und wie sind sie beschaffen? Wie sind wir mit ihnen verbunden? Wie müssen wir uns ihnen gegenüber verhalten? Immer lautet Pyrrhons Antwort: Wir wissen es nicht. Wir können sagen, wie uns die Dinge erscheinen, aber über ihr Wesen wissen wir nichts Sicheres. Dasselbe Ding erscheint mehreren Beobachtern auf unterschiedliche Weise, die Meinungen gehen sowohl unter den Unwissenden wie unter den Weisen auseinander, was beweist, dass man nichts felsenfest behaupten darf und keine einzige Ansicht mit Sicherheit richtig oder falsch ist. Meinungen sind erlaubt, aber Gewissheit und Wissen sind unerreichbar. Daraus leitet sich ab, dass unser Verhalten gegenüber den Dingen distanziert sein und sich jedweden Urteils enthalten muss. Von nichts kann es Gewissheit geben, nicht einmal, ob draußen vor dem Fenster die Sonne scheint oder der Regen niederrauscht.
Wenn Naudé seine Zeit nicht damit verbrachte, sich mit den anderen der Tetrade oder im Haus der Gebrüder Du Puy, dem zweiten großen Treffpunkt der Gelehrten und Gebildeten von Paris, in
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