Das Mysterium der Zeit
zu zerren, dass wir uns fast die Handgelenke verrenkt hätten. Unsere Finger wurden von zahlreichen Seemannsknoten eingeschnürt, mit denen die Entführer uns daran hindern wollten, irgendetwas zu ergreifen. Wir versuchten zunächst, alle gemeinsam an den Seilen zu ziehen, die unsere Handgelenke und Arme fesselten, dann probierten wir abwechselnd alle Möglichkeiten aus: reißen, drücken, dann lockern, vor und zurück reiben, drehen, schütteln, zerren und wieder lockern. Nach einer halben Stunde vergeblicher Versuche schmerzten unsere aufgeschürften Hände und Gelenke, und die klebrige, schnell trocknende Flüssigkeit, die wir an den Handflächen spürten, konnte nur unser eigenes Blut sein.
»Verflucht, das darf nicht sein!«, schriest du, und ich spürte, wie deine Schultern bebten in ihrer Fassungslosigkeit darüber, dass sie dieses tödliche Joch tragen mussten. Wieder wandest du dich wild hin und her, als könnte die schiere Körperkraft über geschickte Seemannsknoten siegen, die ersonnen wurden, um Schiffe während eines Sturms an der Mole festzuhalten. Wie ein Fohlen, das nicht gezähmt |565| werden will, begannst du wieder, nach allen Richtungen zu ziehen, Spritzer und Gischt aufwirbelnd, vor Angst, Ohnmacht und verzweifelter Wut schreiend, während die eisernen Ringe unter deinem Zerren klirrend gegen die Felsen stießen.
Doch jede deiner Bewegungen war für uns ein Stoß in den Rücken, der uns wild nach rechts und links warf, sodass die Seile unsere Glieder nicht weniger marterten als deine. Bald schrien wir lauter als du, baten dich, nein befahlen dir, dich zu beruhigen, und drückten schließlich mit all unserer Kraft gegen deinen Rücken, um dich zum Stillhalten zu zwingen. Uns fehlte deine jugendliche Kraft, dir unsere Schicksalsergebenheit.
Schließlich verharrten wir alle drei mit gesenktem Kopf, ein wunderliches, verzweifeltes dreiköpfiges Meeresungeheuer, bis zur Brust vom hochaufspritzenden Meerwasser durchnässt, erschöpft von irrsinniger Angst und dem viehischen Kraftaufwand, mit dem wir erst versucht hatten, uns alle zu befreien, und dann dich, junger feuriger Atto, zum Aufgeben gezwungen hatten. Du schluchztest leise, mehr aus Wut denn aus Angst. Vier dumme Banditen hatten den hoffnungsvollsten Kastraten Europas zum Tode verurteilt, war das nicht lächerlich?
Eine ernste, düstere Stille bemächtigte sich unseres erschöpften Terzetts. Jedem reichte das eiskalte Meerwasser bereits bis zu den Oberschenkeln, die Flut stieg. Mit trockener Kehle, in der schon die Vorahnung des Todes lag, prüften wir im Geiste alle Vermutungen über den Angriff, der uns in diese erbärmliche Lage gebracht hatte. Waren die vier an Land gegangene Korsaren, desertierte Soldaten oder Banditen, die sich vor der Gerichtsbarkeit des Großherzogtums auf Gorgona geflüchtet hatten, oder waren es Inselbewohner, die ihre Einkünfte mit gelegentlichen Entführungen und Raubüberfällen aufbesserten? Hatten sie uns in dieser Grotte zurückgelassen, damit wir krepierten oder, was logischer und wünschenswerter war, um Lösegeld für uns zu fordern? Doch dergleichen Überlegungen waren jetzt nutzlos, weit drängender war der Gedanke an die steigende Flut, vor der wir uns nicht schützen konnten.
Dann folgte jäh die Erscheinung.
Das Ungeheuer war finster wie die Nacht und tauchte auf, ohne die Wasseroberfläche auch nur zu kräuseln. Es kam über uns wie ein schwarzer Blitz: Unheimlich und schleimig bewegte es sich mit der |566| Leichtigkeit von Vögeln, die mit zwei trägen Flügelschlägen auf dem Boden landen. Es blieb bis zum Hals im Wasser, um uns mit trostlosen, leeren Augen anzustarren. Sein Kopfhaar ging in das glänzende, schmierige Fell über, das Gesicht und Körper bedeckte. Der Blick war kalt, abwesend und wässrig. Du und Naudé, ihr konntet es sehen, ich erblickte es erst, als ich mich nach euren ängstlichen und entsetzten Schreien furchtbar verdrehte.
Es blieb wenige Augenblicke. Für dieses Wesen waren wir nur Fleisch, das im Wasser verfaulen würde, und vielleicht wollte es uns in aller Ruhe verschlingen, sobald unsere Glieder leblos waren.
Endlich tauchte es mit einer einzigen Bewegung unter, und wir sahen das Wesen, das sich unter Wasser gleich einem schwarzen Blitz zu bewegen vermochte, davonschwimmen. Wir waren wieder allein, stumm, das Herz klopfte uns bis zu den Schläfen, und wir verspürten wenig Lust, diese ebenso unerklärliche wie unheilvolle Erscheinung zu kommentieren.
»Ich weiß
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