Das Mysterium der Zeit
aber es war keine Stadt, sondern ein Haufen verlassener oder sogar halb verfallener Häuser.
Die Enttäuschung stand uns allen ins Gesicht geschrieben. Wie lächerlich wirkte dieses bescheidene Dorf gegen die Beschreibungen, die man uns von der Stadt gegeben hatte! Welch klägliche Lügen hatten uns Sieben, Zwölf und Neunzehn und diese Verrückte, Nummer Drei, aufgetischt! Sie hatten von einer Gemeinschaft voll pulsierenden Lebens, von Festen mit Kinderchören, Trompeten und Pauken, von Frauen mit eleganten Haartrachten und einer reich bevölkerten Stadt erzählt. Besser war da schon die Lüge des ehemaligen Kommissars, |599| dass die Stadt gar nicht existierte. Noch trauriger stimmte der Vergleich mit der Abtei, die uns die drei Bärtigen in den glühendsten Farben geschildert hatten hatten: Innenhöfe mit Statuen und Brunnen, Gärten voll exotischer Pflanzen, neuntausend luxuriöse Zimmer über sechs Stockwerke verteilt … Alles, was wir vor uns hatten, war ein trostloses, menschenleeres Dorf.
Nach seinen Ausmaßen und der günstigen Lage (an klaren Tagen erblickte man wahrscheinlich in der Ferne das Festland) durfte man das Dorf als den einzigen richtigen Hafen Gorgonas bezeichnen, denn andere Ankerplätze, die die Bezeichnung Hafen verdienten, gab es nicht. Der Rest der Insel, den wir zur Genüge kennengelernt hatten, war so felsig und unwegsam wie ein Adlerhorst. Jetzt wussten wir auch, warum wir die Stadt nicht gesehen hatten, als wir uns mit unseren Rettungsboot Gorgona näherten: Sie war unbewohnt und des Nachts durch kein Licht belebt.
Im Schein der sinkenden Sonne wanderten wir durch diesen Friedhof aus bröckelnden Mauern, und während wir eben noch beflügelt gewesen waren durch die Tatkraft, mit der wir die unüberwindliche, unter Wäldern versteckte Schlucht in der Mitte der Insel unterirdisch bewältigt hatten, bereitete sich jetzt Entmutigung, Angst und Misstrauen unter uns aus. Rechts ein zerfallenes Haus, links ein Laden, der seit wer weiß wie vielen Jahren verlassen war, weiter vorn ein Gutshof, dessen Dach eingefallen und dessen Fenster offensichtlich von einem Dieb aufgebrochen waren, schließlich ein kleiner, halb verbrannter Heuschober. Ein deprimierendes, groteskes Schauspiel. Was hatte die Bewohner getrieben, den Ort zu verlassen?
Wir stießen auf zwei Wasserbecken, die in die Flanke eines felsigen Hangs gegraben waren, bis zum Rand gefüllt mit dem Regenwasser der letzten Tage. Alle nutzten wir die Gelegenheit, uns von der Erde zu säubern, mit der wir uns bei unserem Gang durch den Tunnel beschmutzt hatten, besonders Schoppe und Kemal. Da sich alle um die erste der beiden Wannen drängten, gingst du zu der anderen, am Ende einer Treppe gelegenen Wanne, die weniger bequem zu benutzen war.
Während wir warteten, bis wir an der Reihe waren, winkte mir Naudé, ich solle ihm folgen, und wir setzten uns ein wenig von den anderen entfernt auf Felsvorsprünge zwischen den Büschen. Geschützt vor neugierigen Blicken, zog der Bibliothekar wieder die Karte von Philos Ptetès hervor.
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»Seht Ihr? Dies muss der Tunnel sein, den wir soeben durchquert haben«, sagte er, tippte mit dem Finger auf ein paar grobe Striche auf der Karte und zeichnete mit einem Stift ein a darüber. »Demnach würde ich sagen, das große Gebäude, das gleich darüber skizziert ist, stellt den unbewohnten Ort dar, an dem wir uns jetzt befinden.«
»Meint Ihr, irgendwo in diesem Dorf könnte sich eine weitere Botschaft von Philos Ptetès verbergen?«
»Genau das meine ich. Aber wo?« Der Bibliothekar blickte sich ratlos um.
All diese Hütten zu durchkämmen, ohne sich von den anderen erwischen zu lassen, würde nicht einfach werden.
Wir prüften erneut die Karte und versuchten, aus den fünf Buchstaben, die bis jetzt aufgetaucht waren, ein sinnvolles Wort zu bilden: f , s , u , B und a .
»Wollt Ihr meine Meinung hören?« Ich überlegte. »Ich glaube, das B hat nichts mit den anderen Buchstaben zu tun. Es bedeutet nur den |601| Anfangsbuchstaben des Namens Bouchard, wie Ihr sofort erkannt habt, als wir es in der Grotte des Seeochsen entdeckten. Philos Ptetès hat es bewusst als Großbuchstaben geschrieben und nicht auf einen Zettel wie die anderen, sondern in den Sand der Grotte.«
»Ihr könntet recht haben, doch welche auf Poggios Schatz hinweisende Botschaft soll sich hinter f , s , u und a verstecken? Wie viele und welche Buchstaben fehlen noch? Und vor allem, in welcher Sprache?«
»Nun, ich würde
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