Das Mysterium der Zeit
sagen, Latein. Wir haben es mit einem Mönch zu tun.«
»Natürlich, wie dumm von mir. Ich hatte nicht daran gedacht.« Naudé schlug sich an die Stirn.
Wieder einmal wurde deutlich, dass Mazarins Bibliothekar nur Medizin studiert hatte, wie Schoppe ihm so gerne unter die Nase rieb. Das Gespenst des Paranimfs lauerte hinter jeder Ecke.
Nachdem auch wir beide uns endlich mehr schlecht als recht gesäubert hatten, setzten wir mit den anderen unseren Gang durch das Dorf am Meer fort. Die Gebäude standen jetzt dichter, doch keines von ihnen wies die geringste Spur von Leben auf. Halb geöffnete Türen, zerstörte Umzäunungen, eingestürzte Mauern überall.
»Ich verstehe. Dies ist ein Fischerdorf«, sagtest du.
»Ja, und?«, fragte Naudé.
»In dieser Gegend werden vor allem Sardellen gefischt. Doch wenn die Strömungen ihre Richtung wechseln oder der Handel auf einer anderen Insel Fuß fasst, übersiedeln die Fischer massenweise. Von diesem Phänomen habe ich schon gehört. Dasselbe könnte hier auf Gorgona passiert sein.«
»Das kann uns ziemlich gleichgültig sein«, sagte Kemal. »Ich würde vorschlagen, wir suchen uns einen Unterschlupf für die Nacht. Morgen müssen wir unbedingt etwas zu essen besorgen.«
Keiner wagte zu widersprechen. Die Geschmacksnerven und Mägen unserer Gruppe hatten sich noch nicht von dem kulinarischen Alptraum in der Hütte erholt, und noch übertraf der Ekel unseren Appetit. Die Insel Gorgona, dachte ich, hielt uns in einer unheilvollen Umarmung aus Tod und Menschenfresserei gefangen.
»Seht mal, dort könnten wir vielleicht unterkommen«, sagte Naudé.
Es war ein kleines einstöckiges Häuschen, dessen Türen und Fenster |602| unversehrt schienen. Wir gingen darauf zu, Kemal erprobte seinen mächtigen Fußtritt. Die Tür widerstand mehreren Versuchen, dann gab sie nach.
Im Inneren gab es zum Glück keine Spur von Ratten oder anderen unwillkommenen Bewohnern. Ein paar Möbel standen noch da und vor allem Strohlager, vielleicht schon von anderen Hausbesetzern benutzt. Kemal kehrte nach einer kurzen Expedition mit einigen alten Fensterrahmen zurück, die er aus den Nachbarhäusern herausgebrochen hatte. Alle waren aus altem, trockenem Holz, das wir für den Kamin benutzen konnten.
Erst jetzt erlaubte der Statthalter Schoppe, den Sack wieder an sich zu nehmen:
»Nimm, alter Mann, jetzt darfst du dich damit vergnügen«, sagte er, während er dir die Last von den Schultern nahm und Schoppe den Sack mit einer pompösen Geste reichte, in der sich sein ganzer Abscheu vor dem Papierkram und der Gier ausdrückte, mit der die Philologen sich auf die Antike stürzten.
Dem alten deutschen Gelehrten, der mittlerweile am Ende seiner Kräfte war, blitzte schlagartig wieder die Lebensfreude aus den Augen.
Hastig riss Schoppe den Sack an sich. »Endlich! Gott sei gelobt, und mögen alle Ignoranten krepieren«, brummte er, ohne sich um die mögliche Reaktion des Korsaren zu sorgen.
Er setzte sich auf einen wackeligen Schemel und griff in den kostbaren Inhalt des Sacks.
Naudé trat zu ihm und heuchelte ebenso große Neugierde, wühlte aber weit weniger entschlossen in den Papieren, da er, wie ich wusste, kompromittierende Aufzeichnungen Bouchards fürchtete.
Naudés Sorgen waren mir nur allzu bekannt. Wie er uns in der Grotte des Seeochsen gestanden hatte, war er überzeugt, dass Philos Ptetès und der von Bouchard mit der Kopie des Synkellos beauftragte Kopist ein und dieselbe Person waren. Darum fürchtete er, dass der slawonische Mönch bei seinem Treffen mit Naudé und mir im Wald, welches unerwarteterweise zu einer Begegnung mit unseren Entführern und seinen Mördern geworden war, keine kostbaren Manuskripte aus Poggio Bracciolinis Nachlass, sondern weitere anklagende Notizen Bouchards mit sich geführt hatte. Die beiden zogen eine Reihe beschriebener Blätter heraus und begannen, sie mit unglaublicher Geschwindigkeit zu überfliegen.
|603| »Aber … aber … das verstehe ich nicht«, stotterte Schoppe und versuchte, die soeben hervorgezogenen Papiere wieder in den Sack zu stopfen. Naudé riss sie ihm aus der Hand, erhob sich rasch, obwohl Schoppe ihn daran zu hindern versuchte, und las laut:
Das wahre, große Unglück Scaligers ist es, Caspar Schoppe zum Gegner zu haben, der klebrig ist wie Honig, bösartig wie eine Schlange und wild wie eine Hyäne.
Auf Naudés Gesicht war die Sorge einem breiten, seligen Lächeln gewichen. Er fuhr mit der Lektüre fort:
Schoppe hat ein
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