Das Mysterium der Zeit
Galileo erhob, nachdem er ihn so heftig verteidigt hatte. Aber ich schwöre, dass ich ihn auf dieser Reise danach fragen werde, damit ich was zum Lachen habe, haha!«
BETRACHTUNG
Darin erklärt wird, worin die bescheidene Arbeit der Philologen besteht, welchen bizarren Neigungen sie zum Opfer fallen und in welcher ruhmreichen Republik sie Bürgerrechte besitzen.
Unsere hochgelehrten Reisegefährten, denen du, Atto, dabei zuhörtest, wie sie mit anmutiger Meisterschaft Bosheiten austeilten, waren unverwechselbare Exemplare der Spezies des Philologen.
Seine bescheidene und dennoch unschätzbar wertvolle Arbeit besteht darin, jahrelang Texte von Cicero, Vergil, Sophokles oder Euripides zu untersuchen, zu vergleichen und zu bearbeiten, um sie von jeder Unvollkommenheit zu befreien. Er sammelt sämtliche alten Handschriften eines bestimmten Werkes und versucht sodann durch endloses, langweiliges Vergleichen und Schlussfolgern, dem sogenannten Kollationieren, festzustellen, ob ein bestimmtes Adjektiv auf a oder auf o enden muss, ob jener obskure Satz erklärt werden kann, ob dieses anonyme Carmen dem einen oder dem anderen Autor zugeschrieben werden muss, ob jene bedauerliche Lücke gefüllt werden kann, ob sich in diesem bestimmten Absatz eine Anspielung auf einen anderen Autor verbirgt, und so weiter. Eine grässliche Schinderei, bei der Rücken und Augen Schaden nehmen, bei der die Philologen mit übersäuertem Magen jahrelang allnächtlich vor der Kerze sitzen und schließlich sämtlich zu Nörglern und Neidern werden, bissig und überkritisch, und wenn sie miteinander streiten (brieflich natürlich), nehmen sie kein Blatt vor den Mund: Esel, Lump, Blender, Selbstbeweihräucher.
Denn wer die Texte der Antike nicht kennt, weiß nichts von dem großen Geheimnis, das die Gelehrten zu grotesken Anstrengungen zwingt: Wer Cicero oder Aristoteles liest, hat niemals eine originale Handschrift vor sich, oh nein! Es ist die Kopie einer Kopie einer Kopie von wer weiß wie vielen anderen vorhergehenden Kopien. Cicero lebte |77| und schrieb im ersten Jahrhundert nach Christus? Gut, aber was wir lesen, mag eine Florentiner Handschrift aus dem 14. Jahrhundert sein, die – so beteuert der Kopist – nach einer französischen Handschrift aus dem 12. Jahrhundert übertragen wurde, welche – heißt es – die Kopie eines karolingischen Manuskripts aus dem Jahr 800 ist, das seinerseits – vermutlich – nach einer spätlateinischen Quelle aus dem 4. Jahrhundert abgeschrieben wurde, die sich wiederum – möglicherweise – direkt auf zeitgenössische Kopien des Originals von Cicero stützt. Und Originalhandschriften Ciceros? Seit unvordenklichen Zeiten verloren, niemand hat je eine gesehen. Und was für Cicero gilt, gilt auch für alle anderen antiken Autoren von Homer bis zu Karl dem Großen.
Überdies machte jeder Kopist Fehler, vergaß etwas, korrigierte, veränderte und kürzte nach Belieben, und am Ende hatte man es im 14. Jahrhundert mit vier oder fünf unterschiedlichen, an manchen Stellen sogar unverständlichen Kopien zu tun.
Mit der Witterung eines Ermittlungsrichters und mönchischer Geduld versucht der Philologe nun, das Durcheinander zu entwirren und auf den ursprünglichen Zustand des Textes zurückzugehen. Durch einen Vergleich der Handschriften (die Methode des Päderasten Poliziano) legt er ihren Stammbaum fest, Stemma genannt, wo jeder Buchstabe eine Handschrift darstellt:
Es braucht jahrelange mühsame Versuche, um das Stemma einer Gruppe von Kodizes zu bestimmen, und absolute Gewissheit erlangt man wegen der unzähligen Unterschiede zwischen den Handschriften nie. Warum haben die antiken Skribenten falsch kopiert? Die großen Philologen sagen: aus Schlamperei, Unwissenheit oder wegen schlechter Augen.
|78| Will man feststellen, ob das, was wie eine uralte Handschrift aussieht, eine Fälschung ist, kann man sich mit Zeugnissen aus Stein behelfen: Tempelgiebel, Grabstelen, Votivinschriften, die bestätigen, ob es diese oder jene Person wirklich gegeben hat. Leider ist jedoch auch der größte Teil dieser Marmorgebilde verlorengegangen. Spuren blieben nur in den Aufzeichnungen passionierter Gelehrter, die versicherten, sie hätten auf ihren Reisen durch Italien, Griechenland und Spanien Hunderte von griechischen und lateinischen Inschriften gesehen, und manche in ihren Notizheften wiedergaben. Leider sind auch diese Hefte oftmals verloren (zum Beispiel jenes des hochgelehrten Ciriaco von Ancona), und
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