Das Mysterium der Zeit
schlechte Dienstleistungen sind in unserem Großherzogtum leider nicht selten. Jüngst hörte ich von einem Umschlag, der sein Ziel erst nach einundsechzig Jahren erreichte. Man fand ihn, als der Fußboden des Postlagers erneuert wurde, wo der Umschlag in den Spalt zwischen zwei Dielenbrettern gefallen war. Absender und Adressat waren inzwischen verstorben.«
»Was für ein Pech! Hoffentlich ist unserem Mönch nicht dasselbe passiert!«, rief Guyetus mit einem säuerlichen Lächeln aus und fügte kopfschüttelnd hinzu: »Ich wäre ganz gewiss nicht abgereist, wenn ich gewusst hätte, dass der Brief zwei Jahre alt ist.«
»Nur Mut«, versuchte Naudé ihn zu trösten, »eine Reise lohnt sich immer, besonders, wenn so viel auf dem Spiel steht. Wie sagt Seneca, das Gehen auf der Ebene ist sicherer, aber sie ist flacher und niedriger; wer auf allen vieren geht, fällt seltener als derjenige, der läuft, doch erwirbt er sich, auch wenn er nicht fällt, keine Meriten; jener, der läuft, erwirbt sie, auch wenn er fällt. Auf dieser Welt gibt es zu viele, die nur über den ausgetretenen Pfad all derer zu gehen vermögen, die ihnen vorausgegangen sind. Groß ist die Zahl jener, die den ganzen Tag daran arbeiten, andere nachzuahmen; besser, man wahrt ein wenig Abstand zu ihnen, um nicht von diesem Übel angesteckt zu werden und in einer solchen Masse unterzugehen. Man gehe einen neuen Weg, der nicht vom
servum pecus
, der Sklavenherde, begangen wird, wie Ovid rät.«
»Plinius, nicht Seneca. Und nicht Ovid, sondern Horaz.«
Der zweifache Schnitzer ließ Naudé verstummen. Unterdessen überlegte ich, was es sein mochte, das hier auf dem Spiel stand, denn das hatten die beiden Gelehrten noch nicht verraten.
|69| Enttäuscht über ihren Misserfolg in Livorno, fuhr Guyetus mit seinem Bericht fort, hatten die drei Verfolger sofort eine gute Gelegenheit gefunden, den Mönch in Lyon aufzustöbern: Sie hatten sich auf dieser Galeere der französischen Marine eingeschifft, die aus toskanischen Gewässern in Richtung Heimat segelte, den Hafen von Toulon, der nur eine Tagesreise von Lyon entfernt ist. Die Flotte der Franzosen kehrte vom siegreichen Feldzug gegen die Spanier zurück, denen sie strategisch wichtige Stellungen in Piombino und Porto Longone abgerungen hatte.
»Darum befinden wir uns alle zusammen auf diesem Schiff«, erklärte Guyetus. »Doch ich muss gestehen, dass der Kapitän Hardouin und mich nur dank einer zufälligen Begegnung mit Gabriel im Hafen von Livorno an Bord genommen hat, ohne Probleme zu machen.«
»Zufällige Begegnung!«, äffte ihn Naudé nach. »Ich würde eher sagen, es war ein unverschämtes Glück, und zwar für uns alle. Ihr könnt es bezeugen, mein guter Secretarius: Wie viele Tage haben wir im Hafen auf ein Schiff der französischen Flotte warten müssen, das bereit war, uns aufzunehmen? Wie viele Male, armer Freund, habt Ihr zwischen der Mole und mehreren französischen Offizieren hin- und hereilen müssen? Und so habe ich während der Wartezeit meine beiden Landsleute und Kollegen sowie Caspar Schoppe getroffen. Auch für ihn habe ich gebürgt. Der gute Schoppe ist eine faszinierende Persönlichkeit. Bevor ich ihn wiedererkannte, dachte ich beim Anblick dieses alten Mannes: wie traurig. Aber welch eine Freude, als ich dann erfuhr, dass er es war …«
»Ich muss gestehen, dass der Name Schoppe mir gar nichts sagt«, warfst du ein, deine Neugierde mit jugendlicher Naivität bemäntelnd.
DISKURS VII
Darin erklärt wird, wer Caspar Schoppe ist, und wie er bei seinen Streifzügen durch ganz Europa, das er mit seinen Schriften übersäte, sein eigenes und das Leben vieler anderer ruiniert hat.
Caspar Schoppe sei wegen seiner umstrittenen Propagandatätigkeit in ganz Europa bekannt, erklärte Naudé, während er die Tinte in dem |70| kleinen Glasbehälter beäugte, den ich ihm gebracht hatte. Er sei ein Flüchtling, aber nicht des Krieges wegen, sondern aus religiösen Gründen. Als Lutheraner geboren, war er zum Katholizismus konvertiert und der erbittertste Feind von Luther, Calvin und Zwingli geworden. Dutzende Bücher hatte er gegen das Unkraut der deutschen Ketzerei verfasst, die, in vielen tausend Exemplaren im Umlauf, bei der Mehrzahl Hass erregt und nur bei wenigen Zustimmung hervorgerufen hatten. Er hatte seine Heimat Deutschland verlassen müssen, wo zahlreiche Anschläge auf ihn verübt worden waren. Wie durch ein Wunder dem Tod entronnen, hatte er Bannflüche und Schmähungen
Weitere Kostenlose Bücher