Das Mysterium der Zeit
obendrein hat man entdeckt, dass ihre in luxuriösen ledergebundenen Ausgaben gesammelten Texte manchmal phantastische Erfindungen waren (auch bei Ciriaco) und diese Inschriften nie existierten.
Wenn zuletzt alle Zweifel ausgeräumt sind, wird die Arbeit des bescheidenen Philologen durch die gedruckte Veröffentlichung des korrigierten Textes gekrönt, der von allen Missverständnissen und Fehlern früherer Kopisten gereinigt und vielleicht sogar mit dem Text identisch ist, den sein Verfasser fünfzehn Jahrhunderte zuvor von eigener Hand geschrieben hat.
Doch das größte Glück, die größte Ehre besteht natürlich darin, ein verloren geglaubtes Werk zu entdecken und zu veröffentlichen. Oh, wonniger Schauer des Ehrgeizes! Welcher Philologe träumt nicht davon, in einer alten Bibliothek oder in einem abgelegenen Kloster ein neues Gedicht von Lukrez, eine unbekannte Rede des Cicero oder einen verlorenen Traktat von Firmicus Maternus aufzuspüren? Mit solch gewichtigen Funden erwirbt man sich Ruhm und Unsterblichkeit. Man tritt ein in den erlauchten Kreis der Entdecker, welche unendlich weit über den niederen Scharen der Korrektoren stehen. Doch man wird auch zur Zielscheibe des Neides, des großen Zerstörers von Schicksalen. Und da der Neid sich überdies vorbeugend betätigt, versucht jeder Philologe, den Ruf seines Kollegen subtil zu untergraben, bevor dieser mit irgendeinem sensationellen Fund zum Ruhm aufsteigt.
Tatsächlich sind nur wenige zu unsterblichem Ruhm gelangt: in Spanien Antonio Augustìn, Liebling des Katholischen Königs und großer Entdecker von Handschriften, in Frankreich Schottus und Casaubon. Andrea Schottus, der hervorragende Kenner griechischer |79| Philosophen und Dichter, wurde sogar Jesuit, um sich die nötige Ruhe für seine Studien zu bewahren, führte jedoch sein vorheriges Leben weiter. In Paris veröffentlichte der ruhmreiche Isaac Casaubon nützliche Ausgaben von Strabo, Sueton und Aischylos. Außerdem gab es einige römische Kardinäle wie den berühmten Baronius, Verfasser der wunderbaren
Annalen
, die seinen Namen tragen.
Obwohl die Philologen sich also insgeheim fortwährend in einem schmutzigen Krieg befehden, sind sie nicht allein. Sie gehören zur Gelehrtenrepublik, deren Bürger als wahre Kavaliere Rat, Informationen, Bücher und sogar kostbare Handschriften miteinander austauschen, auch wenn der eine Franzose und der andere Italiener ist, einer Lutheraner und der andere Katholik, der eine jung und unbekannt, der andere ein hochberühmter Greis. Auch wenn sie einander noch nie begegnet sind, kennen sie sich doch zumindest durch ihre Reputation.
Ihnen allen ist bewusst, dass ihre Aufgabe nicht darin besteht, die Vergangenheit zu erklären, sondern die Gegenwart. Seit Jahrhunderten erkennen alle in der klassischen Zeit das wahre gemeinsame Erbe der Menschheit, von dem wir alle wohl oder übel abstammen und zu dem man immer wieder zurückkehrt. Die modernen Sprachen sind aus dem Griechischen und Lateinischen entstanden, wie alle wissen. Das Denken der Antike fließt in unseren Adern, auch wenn uns das nicht bewusst ist. Wer hat gelehrt, die Mächtigen zu beurteilen, sie zu stürzen, falls nötig? Tacitus und Sueton, die von den Taten der römischen Kaiser und ihrer Tyrannei erzählten. In Griechenland legte Thukydides die Gefahren der Demokratie dar, Vergil zeigte mit seinem unsterblichen Epos von der mythischen Geburt Roms, der
Aeneis
, dass ein großes, stolzes Staatswesen noble Ursprünge braucht. Wer unterwies als Erster in der Liebe? Ovid veredelte die Lust, Sappho die Geheimnisse der weiblichen Sinnlichkeit, Petronius empfahl in seinem
Satyricon
die Männerliebe als schön, elegant und zeitgemäß. Lukrez riet, dumme Liebesgefühle aufzugeben und im Bordell zum Schweigen zu bringen. Cicero bewies, dass beim Schreiben und Reden der Stil sich selbst genügt, Inhalte zählten nicht. Platon lehrte, die Welt als unvollkommenes Abbild himmlischer Ideen zu sehen, während Aristoteles, »der Meister derer, die wissen«, wie Dante dichtete, lehrte, sie unendlich oft nach den Kriterien von Ursache und Wirkung zu zergliedern. Sokrates und die Sophisten zeigten, wie man recht behält, auch wenn man im Unrecht ist, was in der Politik und bei Gericht sehr |80| nützlich ist. Der Stoiker Seneca lehrte, das Schicksal zu ertragen und die raffinierte Kunst des Selbstmordes zu praktizieren. Der Tragödiendichter Sophokles überzeugte alle davon, dass das menschliche Los düster ist und
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