Das Mysterium der Zeit
man verzweifeln darf. Der Dichter der Natur, Lukrez, zählte in Versen achtundzwanzig Gründe auf, warum die Seele nicht unsterblich ist und mit dem Körper verschwindet. Die Gelehrtenrepublik ist der imaginäre Ort, an dem all dieses Wissen bewahrt, aufgefrischt und durch immer neue Studien und Entdeckungen erweitert wird. Die Gegenwart baut auf der Vergangenheit auf: Die Philologen, die entscheiden, wie Letztere sich abspielte, halten beide in ihren Händen. Der Mensch der Antike ist ewig, die Philologen zeigen uns das Porträt, das jemand schon vor vielen Jahrhunderten von uns malte, bevor wir überhaupt geboren waren.
Eine ehrenvolle Aufgabe, doch das Volk weiß nichts von Tacitus, Vergil, Platon oder Lukrez, sie sind ihm herzlich gleichgültig. Noch weniger interessieren es die Philologen: Ihr Gebiet ist unverständlich, enervierend, etwas für Bücherwürmer. Philologen sind reizbar, kauen an den Fingernägeln, geraten wegen eines verschobenen Kommas in Weißglut, doch ihre Wissenschaft ist kalt und bleischwer. Darum sind die Philologen dazu verdammt, im Schatten zu leben. Stillschweigend entscheiden sie, was in den zahllosen Jahrhunderten der Antike gedacht, gesagt und geschrieben wurde, ohne dass ihnen jemals dafür gedankt wird.
Der Vorteil ist, dass ihnen niemand über die Schulter schaut und ihnen ihre Fehler nachweist, der Nachteil, dass sie mit sehr wenigen Ausnahmen dazu verdammt sind, unbekannt zu bleiben.
Doch eins ist gewiss: was sie in der Vergangenheit festgelegt haben, wird in unserer Zeit von modernen Philosophen und Historikern wiederholt, erweitert und bearbeitet. Es gibt zum Beispiel in unserem Jahrhundert Anhänger des Tacitus, die Tacitus’ Beschreibung der alten Germanen auf deutschem Boden benutzen, um den Nationalstolz zu beflügeln, und eines Tages könnte er mit Leichtigkeit Kriege auslösen. Die Philologen zeigen die Steine der Vergangenheit, Historiker benutzen sie, um das Denken der Gegenwart und der Zukunft daraus aufzubauen.
|81| »Kurzum, diese Reise hat den Vorzug, viele schöne Ingenien zusammenzubringen«, suchte ich Guyetus und Naudé zu schmeicheln, da ich mir die abgrundtiefe Enttäuschung und den maßlosen Ehrgeiz vorstellen konnte, den zwei Männer wie sie in ihrer Brust hegten.
»Zu welchen ich mich, in aller Bescheidenheit, nicht zählen möchte«, wehrte der Bibliothekar ab, während er endlich die Feder in das Tintenfläschchen tauchte und probeweise ein paar Linien über das Papier zog. »Schade, dass in dieser Gruppe ausgerechnet jener Mönch fehlt, den unsere Freunde so eifrig suchen.«
Er wechselte einen verständnisinnigen Blick mit Guyetus. Man hatte einander nun gut genug kennengelernt, um uns Vertrauen zu schenken und uns die Schimäre, vielleicht aber auch den echten Schatz zu enthüllen, dem Guyetus, Hardouin und Schoppe, und jetzt vermutlich auch Naudé, so begierig hinterherjagten.
Guyetus zog ein Futteral aus dünner Jute hervor und daraus einen Brief. Er faltete ihn auseinander und reichte ihn mir. Ich bemerkte, dass er einige Flecken aufwies.
DISKURS VIII
Darin man endlich den Brief des geheimnisvollen Mönchs liest.
Der Brief war auf Lateinisch abgefasst, wie es bei den Gelehrten Brauch ist. Du beugtest dich vor, um ihn mit mir zu lesen.
Honestissime et sapientissime vir!
Cum iam dudum fama tua et profundae tuae doctrinae usque ad remotam regionem pervenisset nostram, visum est mihi et fratribus meis mox tibi de felice novaque inventione sine ulla retractatione notitiam afferre, nonnullorum vetustissimorum membranaceorum latinorum codicum, qui hactenus incognita preaclarorum auctorum continent opera et saeculo nono vel decimo vel undecimo exarati sunt, ut mihi in antiquos manuscriptos describendo peritissimo videtur …
Ins Italienische übersetzt, lautete sein Inhalt ungefähr folgendermaßen:
|82| Hochgelehrter und ruhmreicher Herr,
vor langer Zeit schon erreichten Euer Ruf und die Kunde von Eurer unermesslichen Gelehrsamkeit unser Land, daher sind meine Mitbrüder und ich überzeugt, dass es angemessen ist, Euch unverzüglich Nachricht von dem Fund zahlreicher Kodizes lateinischer Handschriften auf Pergament zu geben, welche bislang unbekannte Werke sehr berühmter Autoren enthalten und, nach meiner langjährigen Erfahrung im Kopieren alter Handschriften zu urteilen, im neunten, zehnten und elften Jahrhundert verfasst wurden.
Diese Handschriften stammen aus der Sammlung, welche der bekannte toskanische Gelehrte Poggio
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