Das Mysterium der Zeit
benutzt, um jedes beliebige Ereignis der Vergangenheit zu datieren.
»Erlaubt mir eine Frage, bitte«, warfst du ein. »Wusste man wirklich bis vor sechzig Jahren nicht, in welchem Jahr die Ereignisse der Weltgeschichte stattgefunden hatten?«
»So ist es«, antwortete Naudé.
»Unglaublich! Ich dachte, das hätte man immer gewusst, zumindest annähernd«, bekanntest du.
Naudé und Guyetus erklärten sodann, dass es viel Arbeit gekostet habe, die großen Ereignisse so vieler unterschiedlicher Völker zusammenzufügen, und dass sich vor Scaliger niemand hätte träumen lassen, dergleichen fertigzubringen, gewiss nicht so detailliert wie er. Das Endergebnis schien fast zu einfach: eine Liste mit Fakten und Daten, wo auch Begebenheiten aus Urzeiten ihren Platz in einer Zählung der Jahre nach oder vor der Geburt Jesu Christi fanden.
»Seht her, ich habe hier eine astrologische Gazette des neuen Jahres mit der üblichen chronologischen Tabelle der Weltgeschichte seit der Schöpfung, wie wir sie alle kennen«, und mit diesen Worten zogst du ein winziges Büchlein aus der Tasche und schlugst es auf der ersten Seite auf:
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»Ihr behauptet also, dass all diese Daten vor Scaliger unbekannt waren?«, fragtest du ungläubig.
»Mehr noch, mein lieber Junge«, lachte Guyetus. »Diese Tabelle, diese Daten, hat der große Scaliger persönlich festgelegt.«
Für sein großes Vorhaben habe Scaliger ein neues Kalenderjahr erfunden, fuhr Guyetus fort, das Julianische Jahr. Es dauert 7980 Jahre und geht aus der Multiplikation des Zyklus von 28 Sonnenjahren mit dem der 19 Mondjahre und den 15-Jahresperioden hervor, den Indiktionen, wie Notare sie benutzen. Mit diesem konstruierten Jahr habe Scaliger rückwärts gezählt und einen imaginären Zeitpunkt des Beginns der Zeit festgelegt, der vor allen bekannten historischen Ereignissen lag, sogar noch vor der Sintflut. Ein gewagtes Unterfangen! In |75| seine julianischen Jahre habe er dann geduldig, nach ungeheuer mühseligem, jahrelangem Vergleichen, die Daten der Dokumente alter Kulturen und Völker eingefügt und sie aufeinander abgestimmt. Das Ergebnis war zum Beispiel, dass man jetzt genau sagen konnte, dass der babylonische König Nabupolassar 110 Jahre nach dem Tod des Romulus und 625 Jahre vor der Geburt Jesu regiert hatte, während man vorher nicht einmal genau wusste, wann er gelebt hatte. Oder man konnte sagen, dass Troja 1444 Jahre vor Christus gefallen war, und dass der Exodus der Juden im Jahr 1496 v. Chr. stattgefunden hatte.
»Doch jedes einzelne dieser Daten«, sagte Guyetus, »hat Scaliger beim Vergleichen von astronomischen Beobachtungen, Berichten der Historiker und antiken Kalendern Schweiß und Tränen gekostet. Um zum Beispiel das Zeitalter des Dareios Hystaspes festzulegen, musste er dem griechischen Historiker Herodot glauben, demzufolge Dareios sieben Jahre und fünf Monate nach Kambyses regiert hatte. So gelangt man in das Jahr 226 der Zeit des Nabonassar, ein Datum, das durch die Sonnenfinsternis bestätigt wird, von der Ptolemäus in seinem astronomischen Traktat
Almagest
sagt, dass sie in das 20. Jahr der Regierung des Dareios fiel. Daraus kann man schließen, dass dieses Jahr auch das Jahr 246 von Nabonassar ist, was von einer Mondfinsternis bestätigt wird, die Ptolemäus im Jahr 31 von Dareios, also im Jahr 357 von Nabonassar auf den fünften Mondzyklus legt. Ist doch klar, oder?«
»Nun, mehr oder weniger«, seufztest du resigniert und verzichtetest lieber auf Erklärungen zu vielen anderen geheimnisvollen Ereignissen (Kallippischer Zyklus, Sahami der Armenier, Sturz des Zedekia) in Scaligers Universaler Chronologie.
»Schoppe hat aber nicht nur den armen Scaliger zu Unrecht diffamiert, er hat auch Gutes getan«, sagte Guyetus, »zum Beispiel hat er Galileo mit gezücktem Schwert vor dem Heiligen Offizium und dem Papst verteidigt, um ihm den Widerruf seiner Lehren zu ersparen. Allerdings scheint der gute Caspar irgendwann verrückt geworden zu sein, denn er hat plötzlich behauptet, Galileo habe sich um jeden Preis verurteilen lassen wollen und eine Art Verschwörung gegen den Papst angezettelt, damit dieser ihn zum Widerruf seiner Lehre zwänge.«
»Völlig verrückt«, bemerkte Naudé kopfschüttelnd. »Darum glaubt niemand mehr, was Schoppe sagt. In der Gelehrtenrepublik ist er mittlerweile ein toter Mann.«
»Ich habe nie recht verstanden«, fuhr Guyetus fort, »mit welchen Argumenten |76| Schoppe plötzlich Anklagen gegen
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