Das Mysterium der Zeit
Bracciolini kurz vor seinem Tod seinem Sohn Jacopo übergab. Sie war daher nicht mehr in Poggios umfangreicher Hinterlassenschaft an die Medici enthalten, deren getreuer Untertan er war. Als Jacopo überraschend in jungem Alter und ohne Erben starb, befanden sich die Handschriften ohne ein Verzeichnis in den Händen eines seiner Verwalter. Nach einem jahrhundertelangen Schlaf wurden sie im Haus dieses Bauern gefunden und einem Edelmann aus Pistoia übergeben, welcher uns freundlicherweise Einblick in die Handschriften gewährte, damit wir ihre Veröffentlichung vorbereiten können.
Der Fund umfasst unbekannte Reden von Cicero, einen Großteil des
Satyricon
von Petronius, die bislang fehlenden Teile der
Res gestae
von Ammianus Marcellinus, die
Bella germaniae
von Plinius dem Älteren und fast alle einunddreißig Bände seiner Geschichte Roms. Von Livius gibt es die letzten sechzig Bücher seiner
Historiae ab Urbe condita
, außerdem den vollständigen Text von
De lingua latina
von Marcus Terentius Varro. Von Quintilian ist die
Ars rhetorica
und sein
De causis corruptae eloquentiae
dabei. Zuletzt eine unbekannte Sammlung von Epigrammen des Martial und die gesamte
Achilleis
des Statius, die man bisher für unvollendet gehalten hatte.
Wie Ihr verstehen werdet, ist es von äußerster Dringlichkeit, einen solchen Schatz aus Meisterwerken, nach denen die Gelehrten in aller Welt bis heute vergeblich gesucht haben, unverzüglich in den Druck zu geben, zumal wir nur über eine einzige Kopie verfügen.
Wir unterbrachen die Lektüre, um unserem übergroßen Erstaunen Ausdruck zu geben. Man musste kein Gelehrter sein, um den Wert |83| dieser Schätze zu erkennen. Eine solche Ausbeute verlorener Werke, von deren Existenz man in einigen Fällen nicht einmal gewusst hatte, würde die gesamte Geschichte und Literatur des römischen Altertums umwälzen – sie musste neu geschrieben werden. In den Augen des Philologen Guyetus und in denen des Bibliothekars Naudé, dem rastlosen Jäger kostbarer Raritäten, las ich eine so brennende Begierde, diese Schätze in den Händen zu halten, dass der eine wahrscheinlich Seine Eminenz, Kardinal Mazarin, verraten hätte, um sich mit der Kiste aus dem Staub zu machen, und der andere vielleicht sogar vor einem Mord nicht zurückgeschreckt wäre, wenn man seinen üblen Charakter bedachte.
»
Omina tempus habent
, alles zu seiner Zeit, wie es in der Genesis heißt«, unterbrach Naudé das Schweigen, vielleicht weil er ahnte, was mir angesichts ihrer gierigen Blicke durch den Kopf ging.
»Im Ekklesiastes, Gabriel, es ist der Ekklesiastes!«, brachte ihn Guyetus mit ungeduldigem Kopfschütteln zum Schweigen.
»Aber gewiss doch, der Ekklesiastes, selbstverständlich«, nickte der Bibliothekar seiner Eminenz gutmütig.
Die Handschriften stammten also alle aus derselben Quelle: der Hinterlassenschaft des berühmtesten Humanisten und Entdeckers alter Texte Poggio Bracciolini.
Während ich den Brief las, nickte ich, denn Poggio, dieser hoch angesehene Toskaner, war mir durchaus nicht unbekannt. In Florenz wussten alle, dass Poggio in der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts während seiner Reisen durch Deutschland viele der kostbarsten Perlen der Literatur aller Zeiten ans Licht gebracht und sich damit unvergänglichen Ruhm erworben hatte. Unterstützt von einer Handvoll Freunde hatte er sich in deutsche Klöster eingeschlichen, wo seit Jahrhunderten uralte, höchst seltene Kodizes in völliger Vergessenheit lagen. Die Mönche dieser Klöster, berichtete Poggio, seien von derart barbarischer Unbildung gewesen, dass sie nicht die geringste Ahnung hatten, welche Schätze sie seit Jahrhunderten in verlassenen Kellern verfaulen ließen.
Die Liste der von Poggio entdeckten Handschriften konnte schwindelig machen, so lang war sie: eine große Anzahl der Reden Ciceros, das
De rerum natura
von Lukrez, die
Institutio oratoria
von Quintilian, die
Argonautica
des Valerius Flaccus, das
De veteri disciplina
von Flavius |84| Vegetius, die
Astronomica
des Marcus Manilius, die
Punica
von Silius Italicus, die
Silvae
von Statius, die
Historiae
von Ammianus Marcellinus, ein Teil des
Satyricon
von Petronius, das
De acqueductibus
von Frontinus, das
Mathesis
von Firmicus Maternus … außerdem Werke der Grammatiker Caper und Eutiche, ein Ratgeber des Columella und Texte weniger bekannter Autoren.
Welch ein bewunderungswürdiges, übermenschliches Unternehmen! Ein einziger Mann hatte mit der Hilfe weniger
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