Das Mysterium der Zeit
Unbekannten entführt worden waren, die ihnen ein Auge ausgestochen hatten. Kurzum, sie hatten ihm auf italienische Art, nämlich indem sie die Drohung hinter einem breiten Lächeln und mehrdeutigen Worten versteckten, zu verstehen gegeben, dass dort, wo Erpressung nicht genügt, immer ein Meuchelmörder oder ein gedungener Belastungszeuge auf den Plan treten kann.
Dann kam der böse Tag. Es war März.
»Sie sagten, ich solle für sie herausfinden, an welchem Tag Bouchard bis in die späte Nacht im Vorzimmer von Kardinal Barberini, seinem Herren, bei der Arbeit saß. Denn von Zeit zu Zeit arbeitete Jean-Jacques bis zu später Stunde. Ich kleidete meine Frage unauffällig in eine scheinbare Sorge um seine Gesundheit. Bouchard antwortete mir, sonntags kehre er immer um Mitternacht von der Arbeit heim, da der Papst, ein scharfsinniger, leidenschaftlicher Gräzist, sich immer am Sonntag zu zerstreuen beliebte, indem er mit ihm und seinem Neffen bis in die Nacht hinein über die Fortschritte der Synkellos-Ausgabe plauderte. Also gab ich die gewünschte Information weiter. Ich bat meine Mandanten nicht um Erklärungen, weil ich wusste, dass ich ohnehin keine bekommen würde, ich musste Aufträge ausführen und schweigen. Die Befehle wurden höflich erteilt, aber Erwiderungen duldete man nicht.«
Doch Naudé ist unruhig. Am folgenden Sonntag versteckt er sich schon eine Stunde vor Mitternacht hinter Berninis Säulengang auf dem Petersplatz. Er weiß, dass Bouchard dort vorbeikommen wird.
Naudé blickt sich um. Auf dem menschenleeren Platz steht nur ein Mann, nach französischer Sitte gekleidet, vielleicht ein Diener. Er |620| steht neben einem der Pfeiler, an welchen die dicken Eisenketten hängen, die den Platz schmücken.
Um Mitternacht kommt Bouchard aus der Tür. Naudé hat ihn gerade erblickt, da hört er ein sehr lautes metallisches Geräusch und zuckt vor Schreck zusammen. Der französisch gekleidete Mann hat etwas hervorgezogen, vielleicht eine Eisenstange, und damit auf die schwere Kette geschlagen. Auch Bouchard ist erschrocken. Naudé sieht, wie er sich in die Richtung umdreht, aus der das Geräusch gekommen ist. Der Mann lehnt die Stange an den Pfeiler und rührt sich nicht. Naudé sieht Bouchard weitergehen, doch da hallt ein zweiter, entsetzlich lauter Schlag auf die Kette über den ganzen Platz. Vielleicht ist es nur ein Diener, der sich mit dummen Späßen vergnügt, während er auf seinen Herrn wartet, denkt Naudé, während er sieht, wie Bouchard sich entfernt. Doch schon bald wird er eines Besseren belehrt, denn diese Schläge waren ein Zeichen. Bouchard hat noch keine zwanzig Schritt getan, da erhält er einen Hieb auf den Kopf, der ihm den Hut zerteilt. Sein rechtes Auge blutet. Ein zweiter Schlag auf den Kopf, dann einer von hinten. Sein Angreifer lässt die Waffe kreisen, vielleicht ein Schwert oder eine Stange, und fegt ihm den Hut vom Kopf. Bouchard, der nur wenige Meter entfernt am Eingang des Platzes wohnt, versucht, in sein Haus zu fliehen, doch ein Mensch, ebenfalls nach französischer Art gekleidet, versperrt ihm den Weg. Er hält eine kurze, breite Waffe in der Hand, einen Dolch vielleicht oder einen Stock, zielt auf Bouchards Kopf und schreit auf Französisch: »Das geschieht dir recht!« Obwohl der Ärmste versucht, dem Stoß auszuweichen, wird er wieder am Kopf getroffen. Er wimmert: »Um Gottes willen, was geschieht hier?«, und stürzt zu Boden. Der Angreifer stellt sich rittlings über ihn und hebt die Waffe zum tödlichen Streich, doch unterdessen hat Naudé seinen ganzen Mut zusammengenommen und eine Papstwache benachrichtigt, die in der Nähe vorbeiging und nun mit gezücktem Schwert angerannt kommt. Der Angreifer sucht sofort das Weite, am Boden lässt er einen französischen Hut zurück und ein feuerrotes englisches Band.
Bouchard hat sich unterdessen mit blutüberströmtem Kopf in eine nahe Kirche geschleppt, von wo er sofort in seine Wohnung gebracht wird.
Naudé verschwindet. Die Sache ist zu brenzlig, er will nicht von den Sbirren gesehen werden.
|621| »Vor allem wollte ich nicht, dass Cassiano erfuhr, dass ich Hilfe geholt hatte«, erklärte er.
Also läuft er, was seine Lungen hergeben. In jener windigen römischen Nacht flieht er auch vor sich selbst. Bouchard wird niemals erfahren, dass Naudé ihm das Leben gerettet hat, auch wenn er es damit nur um wenige Monate verlängert hat.
Von Anfang an hatte er begriffen, dass sich etwas Böses anbahnte, dass jemand seinem
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