Das Mysterium der Zeit
hat mein Freund erleiden müssen, während sein Krankenlager langsam zum Totenbett wurde. Er hat so getan, als sähe er die Kälte in den mitleidigen Blicken nicht, er hat die Augen gesenkt, wenn süßes Erbarmen von der Säure inquisitorischer Fragen vergällt wurde. Wir glaubten, er sei nur ein Opfer und darum nur Zuschauer. Stattdessen hat auch er geschauspielert, wie wir. Er wollte bis auf den Grund gehen und sehen, |629| wie weit das Talent der Schauspieler in dieser Komödie reicht, die um ihn herum geschrieben wurde, und deren wahren Epilog er selbst inszenieren musste, mit seinem Tod. Ich, Gabriel Naudé, der Judas, habe ihn an jenem Tag auf dem Petersplatz den Händen seiner Mörder ausgeliefert. Du, Guyetus, der du dich rühmst, deinen Freunden immer zu helfen, hast ihn im Morast ungelöster Fragen verfaulen lassen, obwohl du genau wusstest, dass er sich in einer Sackgasse verrannt hatte. Du, Trouiller, bist nur zu Bouchard gegangen, um ihm einzureden, er sei verrückt geworden und dann hinter seinem Rücken allen zu erzählen, er könne nicht mehr arbeiten. Als er schon eine Weile unter der Erde war und alles glücklich gelöst, lobten sie uns, wir seien tüchtig gewesen. Und erklärten, dass nicht ein Wort des Bühnenstücks ausgelassen wurde. Brillant und lebendig war die Aufführung, gute Arbeit leistete der unbekannte Maskenbildner, der uns das Bleiweiß auf die Wangen strich und uns jünger und gesünder machte als die abgehalfterten, gescheiterten Gaukler, die wir in Wirklichkeit waren. Jeder Knopf unserer Kostüme, eine wertlose Münze, gelb bemalt, glänzte wie Gold. All das wird ins Archiv der Zeit eingehen, jener Zeit, die wir beleidigt, verzerrt und vergewaltigt haben. Doch jetzt besiegt uns jene erschöpfte, gedemütigte Marionette, das Opfer unserer Verstellung, denn es schlägt uns mit dem einzigen Organ, das in seinem kochendheißen, fiebernden Körper unversehrt blieb, das nicht von den Krallen unseres unseligen Wahns zerfleischt wurde: seinen Augen. Bouchard beobachtet uns noch immer, das spüre ich. Wir haben ihm alles entrissen: das Gehirn mit unseren Sophismen, das Herz mit dem Verrat, Arme und Beine mit Stockschlägen. Aber diese in ihr Zimmer verbannte, entbeinte Puppe hat noch Augen, um alles zu sehen. Es gibt keine größere Freiheit als die Sehkraft, denn sie reicht weiter als jedes andere menschliche Vermögen und übertrifft sogar das Denken, das von uns irregeleitet, zerschmettert, getötet wurde. Die Augen trügen nicht: Wenn sie wollen, registrieren und beurteilen sie alles aus eigener Kraft. Unsere Verdammung wurde in einem geheimen Zimmer seiner Augen aufgeschrieben, wo Bouchard das Protokoll unseres verbrecherischen Lebens verwahrte. Seine Sprache ist zu feinsinnig für uns, eine Sprache, die er in der harten Schule des Leidens erlernte, und die wir, Meister der Fälschung und Täuschung, nie verstehen werden. Wie töricht ihr seid, Freunde! Welch eine obszöne Begierde, welch eine Lust am Untergang hat uns dazu gebracht, alles Gute und Edle unter uns so |630| zu verlästern? Alle standen wir in der Aufbahrungshalle vor seinem Sarg. Und ich wollte schreien: Hände weg von Bouchard! Unsere Schul tern sind es nicht würdig, seinen Sarg zu tragen! Unsere Schande herausschreien, das hätte ich tun wollen, und uns vor dem Gericht der Menschheit anklagen. Aber ich weiß, dass es nichts genützt hätte: Auch wir, ebenso wie die vielen Unverdächtigen, die uns schützten, sind lediglich Marionetten. Wir haben uns selbst an einen Haken gehängt, an dem wir uns ungehindert bewegen, doch unsere Arme und Beine werden von Fäden gelenkt, deren Ursprung wir nicht kennen – oder an den wir uns nicht erinnern wollen. Das Wort SCHULDIG hat sich von selbst unseren Gewissen eingebrannt, mit einem unsichtbaren Griffel, den wir persönlich in Bewegung gesetzt haben.«
Fast schien es, als hätte der ruhelose Geist Bouchards sich durch Naudés Mund Erleichterung verschafft.
Der Bibliothekar des Kardinals schloss seine Rede, indem er erneut drei oder vier viel zu große Schlucke nahm. Dabei fiel ihm das Fässchen fast aus der Hand.
Darauf sprachst du:
»Elia Diodati war ein guter Freund der Du Puy und sie wiederum Freunde von Cassiano dal Pozzo, richtig? Also ist Bouchards Tagebuch auch gefälscht worden, weil Diodati es wollte. Vielleicht wollte die ganze Gruppe, die ›gottlose Bande‹, Bouchards Tod. Ihr konntet das natürlich nicht wissen. Außerdem musstet Ihr schweigen, denn jener
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