Das Mysterium der Zeit
Handschrift mit den letzten sechs Büchern der
Annales
und den ersten fünf der
Historiae
zutage. Aus diesem Kodex stammen alle Kopien von Tacitus bis zur Erfindung des Buchdrucks.
Will man nun wissen, wo und wie diese Handschrift in ihren Besitz gelangte, stellt man bestürzt fest, dass Poggio und Niccoli Erklärungen gaben, die keinesfalls akzeptiert werden können, dass sie die Wahrheit also nicht sagen konnten oder wollten.
Warum diese Geheimnisse? Verdienen die beiden Toskaner, die diese Dokumente vorwiesen, wirklich Vertrauen? Welche Garantien gibt es für die Echtheit ihrer Funde?
Poggio und Niccoli zeichneten sich weder durch Gewissenhaftigkeit noch durch Ehrlichkeit aus. Die Suche nach Handschriften war für sie eine geregelte Arbeit, eine Möglichkeit, Geld zu verdienen. Poggio war einer der gelehrtesten Männer seiner Zeit. Wie wir sahen, war er ein geschickter Kalligraph, er bildete Schreiber aus, entlohnte und leitete Männer, die antike langobardische und karolingische Buchstaben auf Pergament kopieren konnten. In Rom leitete er eine Werkstatt, wo er die antiken lateinischen Handschriften, die er dem Vergessen entrissen hatte, wie er sich brüstete, reproduzieren ließ und vertrieb. Er selbst beteuerte, dass die Bände, die seine Werkstatt verließen, so perfekte Nachahmungen antiker Handschriften waren, dass man sie niemals als Kopien erkannt hätte.
Aus einer genauen Studie des Werks von Tacitus geht hervor, dass manche Passagen nicht von einem Menschen geschrieben sein können, der zur Zeit des Kaisers Trajan eine wichtige Position einnahm, und dass andere Stellen die Feder eines Mannes aus dem 15. Jahrhundert verraten. Der Pseudo-Tacitus ist nachMeinung niemand anderes als Poggio selbst. Auch dieser Enthüllung hateine ganze Studie gewidmet.
Auch der erste Teil der
Annales
kommt nach tausend Jahren unerklärlichen einsamen Winterschlafes endlich in Florenz ans Licht, überdies in einem einzigen Exemplar. Die weniger wichtigen Werke von Tacitus, zum Beispiel die
Germanica
, eine Schilderung der antiken teutonischen Völker, die gespickt ist mit unwahrscheinlichen Details, der
Dialogus de
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Oratoribus
(seltsamerweise das gesamte Mittelalter hindurch völlig unbekannt) und die
Agricola
, werden zum Gegenstand undurchsichtiger Verhandlungen mit deutschen Mönchen, von denen Poggio in seinen Briefen auf lakonische, unverständliche Weise berichtet. Jedenfalls werden die Werke schließlich gefunden und kopiert, doch sämtliche Originale verschwinden, kaum dass Poggio sie in Händen gehabt hat, sodass niemand sie je zu Gesicht bekommt und untersuchen kann.
Und wie hat er die Mönche überzeugt, ihm diese Schätze auszuhändigen? Er gibt an, sie oftmals gestohlen zu haben. In anderen Fällen genügen kleine Erpressungen: Unterstützung im Umgang mit der päpstlichen Bürokratie im Tausch gegen die Handschriften. Jedenfalls macht er kein Geheimnis daraus, unsaubere Methoden angewandt zu haben. Seine Entdeckungen werden von befreundeten Mäzenen wie Leonardo Aretino und Francesco Barbaro großzügig bezahlt. Da die Handschriften häufig gestohlen werden, wie Poggio gesteht, hat er nur die Reisekosten. Der Verdienst ist gewaltig. Der arm geborene Poggio wird im Handumdrehen schwerreich.
Zu den wundersamen Entdeckungen Poggios in den Bibliotheken des Nordens gehört auch das
De Architectura
von Vitruv, und auch dieses Original verschwindet im Nichts, sobald unser gerissener Toskaner eine Kopie davon angefertigt hat.
Die
Punica
von Silius Italicus, das längste aus der Antike überlieferte lateinische Poem, wird von Poggio entdeckt. Natürlich ist es die einzige Handschrift, die es auf der Welt gibt, und auch hier behauptet er, er habe sie kopiert und dann verloren. Dasselbe Schicksal erleiden die
Silvae
, eine Gedichtsammlung von Publius Papinius Statius, sie werden gefunden und gehen dann wieder verloren.
Wie zerstreut Poggio und seine Freunde waren! Erst stöberten sie bei Reisen durch ganz Europa antike Handschriften auf, dann trotzten sie den teutonischen Wintern und vereisten oder schlammigen Straßen, um schwere Reisekisten bis nach Florenz und Rom zu schleppen. In der Heimat angekommen, kopierten sie die Handschriften liebevoll (eine Arbeit, die Tage, ja Wochen braucht), und dann verloren sie fast alle Originale! So geschah es auch mit den großen Plädoyers des Cicero, unsterblichen Juwelen der Redekunst, mit denen Cicero seine wichtigsten Klienten von schweren Anschuldigungen, sogar von
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