Das Mysterium der Zeit
Philologe machte sich daran, neue Handschriften durchzublättern, sogar zwei gleichzeitig, eine mit der linken, die andere mit der rechten Hand, und wenn ich ihm direkt ins Gesicht hätte blicken können, hätte ich wahrscheinlich gesehen, dass er über seinem Eifer schieläugig geworden war und nun mit jedem Auge ein Werk betrachten konnte.
Doch diese Eile war nun nicht mehr die Gier, mit der man einer jungen Braut die Kleider vom Leib reißt, sondern die Wut, mit der man, unvermutet zurückgekehrt, zu Hause den Schrank öffnet, wo sich, nackt wie ein Wurm, der Liebhaber der eigenen Frau versteckt.
Derweil brummte der deutsche Edelmann mit belegter Stimme:
»Überall Kritzeleien neben den Texten! Anmerkungen, Nachträge und Kommentare derjenigen, die die Handschriften bearbeitet haben. Hier, eine Glosse in den
Germanischen Kriegen
von Plinius:
Kürzen, zu lang und Tacitus zu ähnlich, das gefällt nicht
. Und hört Euch das hier an, im Statius:
Zwei Strophen wegnehmen und falsche Reime machen, um das Reimschema durcheinanderzubringen
.«
Du schwiegst, starr vor Staunen. Offenbar hattest du in dem Moment, als du den Schatz von Philos Ptetès entdeckt hattest, nicht darauf geachtet, dass sich rechts und links neben dem Haupttext unzählige Anmerkungen in winziger Schrift befanden, die regelrechte Kommentare zum Text darstellten.
»Das verstehe ich nicht«, griff ich ein, »ich dachte, es sei normal, dass eine Handschrift am Rand die Glossen ihres Verfassers trägt?«
Auf Schoppes Gesicht war ein grünlicher Schimmer erschienen. Ohne mir zu antworten, las er weitere Randnotizen:
»
Livius, fünfunddreißigstes Kapitel: Erzählung um die Hälfte kürzen, denn dann erscheint es wie ein Unglücksfall
. Weiter unten steht:
Niccoli fragen, ob es ihm so gefällt, wenn nicht, kann er einen Zusatz machen
.«
»Seht mal hier«, sagtest du plötzlich und zeigtest uns das Porträt eines Menschen mit finsterem, unheimlichem Blick.
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Es handelte sich um einen oval umrahmten Stich. Auf dem Rahmen stand geschrieben:
POGGIUS BRACCIOLINUS
HISTORICUS FLORENTINUS
Es war das Porträt von Poggio Bracciolini, als Frontispiz auf ein Bändchen mit Aufzeichnungen geheftet. Wir öffneten es und entdeckten die Handschrift Bouchards.
|675| UNGLAUBLICHE UND VERLOGENE GESCHICHTE
EINES GROSSEN GLÜCKSPILZES
Oder
Von der besten Art und Weise Raritäten zu entdecken,
nämlich sie selbst zu erzeugen
Von den Theologen wird verlangt, die Echtheit der Texte zu beweisen, auf welche sie ihre religiösen Lehren gründen.
Die Geschichtsschreiber der Tatsachen, der antiken Literatur und Philosophie dagegen sind bis heute noch nicht verpflichtet worden, die Echtheit der Dokumente zu beweisen, auf welche sie sich stützen.
Die Herren Leichtgläubigen werden größte Befriedigung darin finden, die außergewöhnliche Fabel von Poggio Bracciolini zu schlucken. Poggios Geschichte beweist, wie angreifbar und dreist die Lügen sind, auf denen die Gelehrtenrepublik beruht. Wenn der brave Francesco Bracciolininicht die Ehre erwiesen hätte, ihm Poggios Erbschaft anzuvertrauen, die er irrtümlich erhalten hatte, hättediese Untersuchungen, die ihn auf den Spuren Poggios durch die halbe Welt geführt haben, niemals anstellen können. Und vielleicht wäre das besser gewesen.
Poggio wurde erst apostolischer Skribent und päpstlicher Secretarius, dann Kanzlist der Republik Florenz. Man schrieb das fünfzehnte Jahrhundert, eine Zeit, in der die Wiederentdeckung der Antike durch die Gelehrten erdrutschartig voranschritt und fieberhaft nach antiken Kodizes, noch unbekannten oder seit Jahrhunderten verschollenen literarischen Werken gesucht wurde. Und so weit wie Poggio kam kein anderer. Es war, als besäße er einen Zauberschlüssel, um im Handumdrehen zu finden, wonach andere seit Jahrhunderten suchten.
Er pflegte vertrauten Umgang mit den größten Gelehrten seiner Zeit und verfügte über eine Werkstatt mit Kopisten, die er selbst ausgebildet hatte und bezahlte, genau wie Darmarios seine Gehilfen, der die von seinen Reisen mitgebrachten Handschriften für ihn kopieren ließ.
Poggio prahlte offen damit, dass seine Kopisten imstande waren, die Schriften auch der ältesten Kodizes, wie langobardische oder gotische |676| Schreibweisen, perfekt zu imitieren. Auch die Skribenten von Darmarios besaßen dieses Geschick im Nachahmen.
Die Kunden (Kardinäle, Päpste, Fürsten, Adelshäuser) bezahlten seltene Handschriften in Gold, bei Poggio wie
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