Das Mysterium der Zeit
bei dem griechischen Fälscher Darmarios.
Es gibt nur einen einzigen Unterschied zwischen den Betrügern des Andreas Darmarios und den Kopisten Poggios: erstere wurden auf frischer Tat ertappt, nachdem sie plumpe Fälschungen in Umlauf gegeben hatten. Poggio wurde nie der Fälschung bezichtigt, obwohl er weit mehr Handschriften entdeckt hatte als Darmarios, Diassorinos und andere Händler mit hellenischen Attrappen.
Poggio gelang es, der Welt weiszumachen, er habe fast die Hälfte der lateinischen Literatur gefunden. Man muss einräumen: er hatte kluge Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Er ließ die Briefe zirkulieren, die er mit seinen Freunden und Mitarbeitern wechselte, und diemit mönchischer Geduld allesamt aufgespürt und gelesen hat.
Mit dieser Korrespondenz hat der gerissene Toskaner der Welt seine Version der Ereignisse hinterlassen. Der Großteil der Briefe ging nämlich an seinen engen Freund Niccolò Niccoli in Florenz. Seltsamerweise sind Niccolis Antworten jedoch verlorengegangen. Alle.
Geblieben ist nur, was Poggio schrieb, also lässt sich nicht beurteilen, ob er lügt oder die Wahrheit sagt.ist der Ansicht, dass man in solchen Fällen aus gebotener Vorsicht die Dokumente für falsch halten sollte. Doch heutzutage, wo alles sich umkehrt, gelten sie den Herren Leichtgläubigen als echt, und wenn jemand diese Papiere als Fälschung entlarvt, erzürnen sie.
Dabei mangelte es nicht an Gelegenheiten, Poggio zu überführen. Er selbst gab zu, dass er stahl, bestach und die Bibliotheken der Klöster halb Europas plünderte: in Deutschland, Frankreich, in der Schweiz und in England. Wohin auch immer er sich begab, fand er Handschriften zuhauf. Das liege an diesen barbarischen Nordländern, schrieb er seinen Freunden, denn sie wüssten gar nicht, welche Schätze sie in ihren verstaubten Bibliotheken hüteten: Handschriftensammlungen aus dem 12., 11. und sogar dem 10. Jahrhundert. Er entdeckte sie, kopierte sie und kehrte nach Italien zurück. Unerklärlicherweise verschwanden die Originale, |677| nach denen er kopiert hatte und die nur er und wenige aus seinen Kreisen kannten, bald darauf für immer.
Die Herren Leichtgläubigen haben, wie es scheint, die ganze phantastische Inszenierung Poggios nur zu gerne geschluckt. Vielleicht auch deshalb, weil seine Lügen oft wiederholt wurden, frech und unglaubwürdig sind und sich vor allem
gegenseitig stützen
, sodass sie schließlich Wirklichkeit wurden.
Poggio stöberte als Erster eine Handschrift der
Astronomica
von Manilius auf (seltsamerweise dieselbe, mit der Scaliger seine chronologischen Forschungen begann). Manilius imitierte an vielen Stellen das Poem von Lukrez
Über die Natur
. Wer brachte Lukrez ans Licht? Wieder Poggio. Manilius hatte außerdem große Ähnlichkeit mit den
Matheseos libri
von Firmicus Maternus. Wer entdeckte Firmicus Maternus? Natürlich wieder Poggio …
Zu der Zeit waren einige Fragmente des
Satyricon
im Umlauf. Es handelte sich um den Roman eines gewissen Petronius, ein Autor, von dem bis dato nichts bekannt war. Irgendwann kündigte Poggio (in einem seiner üblichen Briefe an Niccoli, die Poggio selbst öffentlich machte) an, dass er einen Teil des
Satyricon
gefunden habe. Sonderbar, aber der Fund kam nie ans Licht. Doch immerhin konnte Poggio endlich sagen, wer dieser Petronius war! Denn das erklärt Tacitus in seinen Geschichtsbüchern
Annales
, ebenfalls eine Entdeckung, bei der Poggio seine Hand im Spiel hatte. Im einzigen Kodex der
Annales
, der die letzten sechs von ursprünglich 16 Kapiteln enthält, fand sich nämlich die berühmte (und einzige) Beschreibung des hervorragenden Schriftstellers Petronius. Die Geschichte des Fundes ist sehr geheimnisvoll: der Kodex der
Annales
11–16, von dem alle anderen im Umlauf befindlichen Kopien abstammen, muss um 1050 in der Abtei von Montecassino geschrieben worden sein. Unglaublich, dass es trotz der Bedeutung dieses Werks gut zehn Jahrhunderte lang keine einzige Kopie gegeben hat.
Bis zu Poggio Bracciolini hatten die Gelehrten nichts über Tacitus in der Hand. Die lateinischen Grammatiker aus der Endzeit des Römischen Reiches (Servius, Priscianus, Nonius Marcellus) berufen sich auf die Autorität und das Vorbild einer langen Reihe von Autoren, doch Tacitus erwähnen sie nicht, als hätte es ihn nicht gegeben oder als wären seine |678| Werke schon damals seit so langer Zeit verloren, dass sich keiner mehr an ihn erinnerte.
Um 1429 förderten Poggio und Niccoli eine
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