Das Mysterium der Zeit
Mord, freisprach: Poggio fand das Original zusammen mit anderen Reden Ciceros in |680| Frankreich, schickte es nach Italien, ließ es kopieren, und danach verschwand es spurlos. Idem die
Argonautica
von Valerius Flaccus. Dasselbe wiederholt sich bei den Kommentaren zu Cicero von Asconius Pedianus: Poggio und seine Freunde finden das einzige Original und kopieren es dreimal. Von dem Original, das keiner je zu Gesicht bekommt, geben sie seltsamerweise auch keine Beschreibung. Der Witz ist, dass einige der Werke des Asconius, die Poggio aus jenem geheimnisvollen Kodex kopiert zu haben behauptet, später als Falsifikate erkannt wurden, das heißt, sie wurden nie von einem Asconius Pedianus geschrieben.
Auf jeden Fall hätte Poggio besser daran getan, all diese antiken Handschriften dort zu lassen, wo er sie gefunden hatte, und wo sie, seinen Worten zufolge, seit mindestens einem halben Jahrtausend unversehrt lagerten. Vielleicht lägen sie dann jetzt noch heil und unangetastet dort, statt auf geheimnisvolle Weise zu verschwinden!
Ist es Zufall, dass das Kloster Reichenau zu Poggios Jagdgründen gehörte? In den Jahrhunderten, in denen die Handschriften geschrieben worden sein sollen, die Poggio erst kopiert und dann so nachlässig verliert, also zwischen dem 8. und 9. Jahrhundert, war Reichenau ein Zentrum für die Herstellung von gefälschten Dokumenten (Privilegien, Verträge, Benefizien, Erlassen), welche die tüchtigen Mönche in schwindelerregender Schnelligkeit fabrizierten, um ihre Interessen (Ländereien, Zölle, Steuerbefreiungen) vor den örtlichen Machthabern und den Kaisern zu schützen. Und sie fälschten
systematisch
: Jedes gefälschte Dokument diente dazu, andere Dokumente zu bestätigen. Vielleicht wurde Poggio von den Mönchen mit solchen getürkten Papieren bedient? Keiner wird es je erfahren, da er ja sagt, er habe die Originale verloren.
In seinen Briefen flüchtet Poggio sich fast immer in kryptische Formulierungen. Ein notwendiger Kniff: Alssie mit den Briefen anderer vergleichen konnte, wurde die Sache sofort verdächtig.
1416 fand in Konstanz in der Schweiz ein großes Konzil statt, um das dramatische Schisma zu beseitigen, das zur gleichzeitigen Regierung dreier Päpste geführt hatte: einer in Rom, einer in Avignon und einer in Pisa. In seiner Eigenschaft als Skribent der Päpstlichen Kanzlei gehört Poggio zum Gefolge des römischen Papstes Urban VI. auf der Reise |681| nach Konstanz. Während der Arbeiten des Konzils beschlossen Poggio und zwei seiner Kollegen, die nahegelegene Abtei von Sankt Gallen aufzusuchen und dort ein wenig herumzustöbern. Was hier wirklich geschah, wird niemand je erfahren.
Poggio und seine Begleiter Bartolomeo da Montepulciano und der junge Cencio Rustico gaben jeder in Briefen an Freunde einen anderen Bericht von den Ereignissen.
In der mittlerweile verfallenen Abtei gibt es nur noch zwei Mönche, den Abt und den Propst. Poggio: »Wir fanden eine so große Menge Bücher, dass viel Zeit nötig gewesen wäre, sie alle auch nur zu zählen.«
Cencio schrieb, dass sie die Bücher aus der Bibliothek der Abtei holten. Poggio berichtete: »Diese Bücher haben wir nicht in der Bibliothek gefunden, wie ihr Wert erwarten ließ, sondern in einem grässlichen, dunklen Gefängnis auf einem Boden
eines Turms
.« Wenn Philologen Irrtümer und Widersprüche in antiken Handschriften nicht erklären können, versuchen sie, alles mit einem Flüchtigkeitsfehler oder einer Ungenauigkeit des Kopisten zu rechtfertigen. Doch in diesem Fall gibt es keinen Ausweg. Die beiden lateinischen Worte für Turm und Bibliothek,
turris
und
biblioteca,
könnte nicht einmal ein Blinder verwechseln.
Nach Cencio wurden
in biblioteca
folgende Werke erbeutet:
Valerius Flaccus,
Argonautiche
I–III und die Hälfte des Buches IV
Cicero, acht Reden, von Asconius Pedianus paraphrasiert
Lactantius,
De utroque homine
Vitruv, ein Buch über Architektur
Priscianus, Kommentar zu Vergil
Ein sehr kostbares Buch über Baumrinden
Nach Poggio wurden
im Turm
entnommen:
Valerius Flaccus,
Argonautiche
I–III und die Hälfte des Buches IV
Cicero, acht Reden, von Asconius Pedianus paraphrasiert
Quintilian,
Institutio oratoria
Francesco Barbaro, der Mäzen Poggios, schrieb folgendes über die Expedition: »Du, Poggio, hast mit Hilfe deines Kollegen Bartolomeo da Montepulciano viele Autoren entdeckt oder zurückgeholt.«
|682| Hier die Liste von Barbaro:
Quintilian
Asconius Pedianus
Lukrez
Silius
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