Das Mysterium der Zeit
würde dem moslemischen Glauben abschwören, sondern der unbekannte Kemal-Vincenzo. Der Sultan würde nicht wissen, mit wem er es zu tun hatte, und am allerwenigsten vermuten, dass er den Renegaten vor sich hatte, der überall mit seinem Motto »Die christliche Religion ist falsch« gewedelt hatte – einem schlauen Schutz seiner Freiheit im Reich Mohammeds, wo man jeden Verrat mit dem Tod bezahlt.
Wenn Gefangene an Bord waren, spielte Ali Ferrarese seinen eigenen Statthalter, während ein anderer Korsar seine Rolle übernahm, irgendeiner im richtigen Alter, und immer ein anderer: Ali wechselte ihn alle sechs, sieben Monate aus. So verhinderte er, dass es wieder zu Dutzenden übereinstimmender Zeugenaussagen kam, wie sie ihn vor zweiundzwanzig Jahren festgenagelt hatten.
Der Mechanismus funktionierte perfekt, denn er konnte alles aushalten, doch der Gedanke an den Kerker war ihm unerträglicher als der an den Tod. Die Nazarener hatten ihn im Gefängnis gerecht behandelt, obwohl er sie hasste und nicht einmal genau wusste, warum. Wie Occhialì, wie Cicala, wie alle italienischen Renegaten, liebte und fürchtete Francesco Guicciardo den unbezwingbaren Teil in sich, der trotz allem christlich und italienisch blieb.
Doch das ist Geschwätz, lieber Atto. Ali Ferrarese war alles und niemand. Er lief herum und sprach von sich in der dritten Person, weil es ihn amüsierte, den Mythos seines doppelten Ichs auf Kosten der Nazarener zu kultivieren.
Der erste Verdacht kam mir, als seine Karacke das Rettungsboot mit uns armen Schiffbrüchigen entern wollte. Ich habe Naudé gezeigt, wie er handeln sollte. Natürlich war ich derjenige, der ihm die Pistole geliefert hatte, mit der er auf Kemal zielte.
Und so habe ich ihn auf Gorgona an einem windigen Nachmittag mit einem Wechselspiel aus Sonne und Wolken während eines Spaziergangs vor der Torre Vecchia enttarnt und zu einem Pakt überredet. Damit habe ich die Zeit gewonnen, die ich brauchte, um meinen Plan zu Ende zu führen, natürlich auch, indem ich Kemal mit der trügerischen Vorstellung lockte, sich den kostbaren Philos Ptetès schnappen zu können …
|745| Als Gegenleistung würde ich ihm zu gegebener Zeit helfen, uns Nazarener einen nach dem anderen einzufangen. Ich würde tatkräftig mithelfen, die verschiedenen Todesfälle, die in Wirklichkeit Entführungen waren, glaubhaft zu machen. Sogar die Gefangennahme der drei Bärtigen war Teil unseres gemeinsamen Handelns, denn auch Kemal hatte wie ihr alle geglaubt, einer der drei wunderlichen Gestalten könnte Philos Ptetès sein. Darum hatte er dich beleidigt und war dann mit mir handgreiflich geworden – ein von uns beiden inszeniertes Ablenkungsmanöver, um die ganze Gruppe in Schach zu halten, während die drei Bärtigen von seinen Männern entführt wurden. Zu ihnen gehörte auch Mustafa, den ihr anderen bereits für tot hieltet, derweil er hinter den Kulissen agierte. Natürlich log ich, als ich euch von Mustafas Ende berichtete. Ich wusste genau, dass er nicht von der Klippe gestürzt, sondern zu den anderen Korsaren gestoßen war.
Schließlich mussten wir uns am Leuchtturm der Meloria wieder mit den Barbaresken vereinigen, und zwar aus einem bestimmten Grund. Kemal hatte seine Mannen instruiert, dass sie ihn, wenn etwas dazwischenkam, nicht auf Gorgona, sondern an der Meloria finden würden. Und so war es: Die verrückten Gorgoneser hatten uns mit Kanonenschüssen vertrieben, wir mussten mit dem Boot bis zu dem einsam im Meer liegenden Turm fliehen.
In den ersten Tagen nach dem Schiffbruch war die Vereinbarung mit Kemal reibungslos gelaufen. Doch die kannibalische Mahlzeit aus slawonischem Mönch setzte der Zeit, die mir von unserem verkleideten Ali Ferrarese gewährt worden war, ein jähes Ende. Hast du bemerkt, wie brutal und ungeduldig er von dem Moment an wurde? Nachdem er die Hoffnung aufgeben musste, sich auch durch Philos Ptetès zu bereichern, hatte er es verteufelt eilig, uns alle auf seine Karacke zu laden.
Der falsche Philos Ptetès, der ehemalige Kommissar, die drei Bärtigen, Nummer Drei: natürlich wusste ich, dass diese armen Irren, die der Großherzog der Toskana nach Gorgona verbannt hatte, auf alle Fragen immer mit Ja antworteten. Also legte ich ihnen durch meine Fragen die gewünschten Antworten in den Mund. Habt Ihr den Mönch gesehen? Ja, ja! Hatte er eine Tasche bei sich? Na, klar! Seid Ihr vielleicht Philos Ptetès? Ich bin’s persönlich! Auch die imaginären Städte und Klöster von
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