Das Mysterium der Zeit
Veröffentlichung Monsignore Chigi unterband. Cassiano hatte Euch die schmutzigen Tagebücher gezeigt. Warum habt Ihr sie nicht erwähnt?«
»Mein Porträt von Bouchard war nicht gerade zartfühlend, wohlgemerkt, doch der schlimmste Vorwurf, den ich meinem Freund gemacht habe, war, dass ich ihn einen Emporkömmling genannt habe. Ich habe ihn als den Sohn eines Gemüsehändlers ausgegeben, verschwiegen, dass er Philologe ist, und seine Karriere politischen Manövern statt eigenen Verdiensten zugeschrieben. Das ist alles. Natürlich wusste ich, dass das alles Lügen waren, aber was soll ich machen, Signore, mein Publikum will nichts anderes als Klatschgeschichten und pikante Enthüllungen. Und mein Freund war tot. Aber von Päderastie oder dergleichen, Gott bewahre, kein Wort davon. Wollt Ihr wissen warum? Auch ich hatte mit Severino gesprochen, lange vor Naudé. Ich erfuhr von seinen Zweifeln angesichts der Veränderungen von Bouchards Handschrift in jenen Tagebüchern, von den Spuren von Zwang, die Severino auf den obszönen Seiten entdeckt hatte. Und da ich schlauer bin als diese Leute, hatte ich mir schon bald zusammengereimt, was sich hinter all dem verbergen konnte.«
»Ihr habt es also getan, um das Andenken Eures Freundes zu wahren?«
»Ach was. Ich glaube, dass den Toten ihr Ruf herzlich egal ist, Signore. Das sind nur Vorstellungen von uns Lebenden, die diesem dunklen, stinkenden Kellerloch, das wir Welt nennen, viel zu viel Wichtigkeit beimessen. Vielleicht hängen die Seelen im Fegefeuer noch ein wenig an dieser Welt, nach dem zu urteilen, was man sich über sie erzählt, doch wer aus diesem Keller ins Paradies aufsteigen konnte, der scheißt drauf«, schloss der Eritreer mit philosophischer Bissigkeit.
»Warum habt Ihr es dann getan?«
»Ich habe immer noch die Absicht, über diese Tagebücher zu schreiben, aber nicht in einem Porträt Bouchards, sondern in dem eines anderen.« Er grinste verschlagen.
»Was meint Ihr damit?«
|741| »In einem Porträt von dal Pozzo, zusammen mit der ganzen Geschichte, wie er Bouchard ermordet hat. Ich warte nur darauf, dass dieser Päderast krepiert, haha! Aber ich weiß, dass er mir diesen Gefallen nicht tun wird, diese Verkörperung des Teufels. Er ist elf Jahre jünger als ich. Wie Ihr seht, sind meine Aussichten, ihm den Nekrolog zu schreiben, den er verdient, äußerst gering. Doch früher oder später wird es jemand übernehmen. Die Wahrheit ist wie Scheiße: sie kommt immer wieder an die Oberfläche, haha!«
Gian Vittorio Rossi, genannt der Eritreer, starb noch im selben Jahr an einem feuchten Novemberabend 1647. Unvorbereitet entschlief er unter seiner Weinlaube, zu deren Füßen sich ganz Rom erstreckte, ohne dass ihm die Genugtuung zuteilwurde, den ersehnten Nekrolog für den Cavaliere und Commendatore Cassiano dal Pozzo schreiben zu können.
DISKURS CIX
Letzte Entdeckungen, Bilanz und Abschied.
Kehren wir zu meinem Plan zurück, uns alle auf Gorgona auszusetzen, und wie ich ihn verwirklichte. Noch immer bin ich stolz auf meinen schönen lateinischen Brief, gespickt mit verlockenden Informationen für die Kreise der Gräzisten und Latinisten, unterzeichnet von einem geheimnisvollen, faszinierenden Mönch aus dem fernen Slawonien. Tagelang habe ich über diesen Brief nachgedacht, bevor ich ihn schrieb und an einige der berühmtesten Philologen unserer Zeit sandte, die mit einem besonderen Kriterium ausgewählt waren: sie mussten sich mit Chronologie beschäftigt haben. Das Schauspiel war bis ins kleinste Detail geplant. Um die Verspätung zu erklären, mit welcher der Brief seine Adressaten erreichte, hatte ich die Geschichte vom Verschwinden des Briefes im Postlager aufgetischt, wo er angeblich gut zwei Jahre liegenblieb, und zusätzlich hatte ich ihn mit einem strategisch platzierten Wasserfleck versehen, der das Datum löschte.
Auf die Einladung des imaginären slawonischen Mönches antworteten nur Schoppe und Guyetus, Letzterer nahm außerdem Hardouin |742| mit. Naudé war mir bereits sicher, denn er musste die Kopie der Gutenbergbibel für Kardinal Mazarin vom Kopisten abholen. Wer weiß, was passiert wäre, wenn auch Petavius mitgekommen wäre, jener gefürchtete Jesuit, Fortsetzer des Werkes von Scaliger, der ebenfalls mit Bouchard in Briefkontakt stand.
Ich habe dafür gesorgt, dass wir im Hafen von Livorno alle auf das als Kriegsgaleere getarnte Brandschiff verladen wurden. Als sich herausstellte, dass die Galeere keine war, sondern ein
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