Das Mysterium der Zeit
wenig, ließen aber andere oft für sich arbeiten. In seinem
Museo Cartaceo
stellte Cassiano eine enorme, fast schon enzyklopädische Sammlung von Fundstücken und Zeugnissen über die Bräuche der klassischen Welt zusammen. In seiner Sammeljagd nach Materialien zur Antike fanden sich auch umstrittene Quellen ein. Cassiano war zum Beispiel ein großer Sponsor des dreisten und »kreativen« Pirro Ligorio (1514–1583), von dem er nicht nur echte Objekte in Umlauf brachte, sondern auch nicht wenige gefälschte.
Die Täuschungen Pirros werden seit Generationen untersucht und diskutiert. Seine Zeitgenossen wie auch die Historiker des 18. und 19. Jahrhunderts verurteilten offen die zahlreichen Fälschungen, die seine
Antichità Romane
enthält, eine ausufernde Sammlung von Zeichnungen, Beschreibungen und Kommentaren zu antiquarischen und literarischen Zeugnissen der Antike |770| (Inschriften, Statuen, Monumente etc.), die sich heute unter anderem verstreut in Neapel, Oxford und Rom befindet (vgl. G. Vagenheim,
La falsification chez Pirro Ligorio
, in: »Eutopia«, 3 (1994), S. 67–104). Um seine Falsifikate anzufertigen, griff Pirro auf die Hilfe des Gräzisten Benedetto Egio zurück, der wie Darmarios in Kontakt mit Isaac Casaubon stand, welcher Scaliger das geheimnisvolle Synkellos-Manuskript geliefert hatte (vgl. Hélène Parenty,
Philologie et pratiques de lecture chez Isaac Casaubon
, Beitrag zum Kongress »Philologie als Wissensmodell/La philologie comme modèle de savoir«, München 20.–22. Juli 2006).
Die moderne Kritik allerdings versucht den neapolitanischen Humanisten freizusprechen, indem sie beteuert, dass seine Werke keine Fälschungen waren, sondern Nachbildungen, um in den Genuss der Anschauung beschädigter oder bruchstückhaft erhaltener antiker Bilder, Münzen und Inschriften zu kommen. Gemäß dieser neuen Blickrichtung wurden mit der damaligen Geisteshaltung Pirros »fiktive Anschauungsobjekte« als vollkommen legitim betrachtet. Eine recht wohlwollende Erklärung, die heute auf diverse zentrale Figuren des Humanismus angewandt wird, die kommerzielle Verwertung dieser »Rekonstruktionen« allerdings unberücksichtigt lässt.
Vor allem aber bleibt es im Licht dieser Argumentation schwer zu erklären, warum schon Pirro Ligorios Zeitgenossen, wie zum Beispiel sein äußerst gelehrter Freund Antonio Augustín (der sich griechischer Kodizes bediente, die ihm vom Kopisten und Fälscher Andrea Darmarios vorbereitet wurden) oder der ebenso gebildete Onofrio Panvinio (seinerseits verantwortlich für eine berühmte Fälschung Ciceros), Pirro beschuldigten, die Rekonstruktionen der antiken Monumente zu erfinden, »um die Oberhand über andere Meinungen zu gewinnen«. Ligorio entwarf zum Beispiel aus dem Nichts eine Inschrift, dessen erfundenen Text er seinen anderen Zeichnungen und Notizen hinzufügte, um einen falschen Beweis zu liefern, mit dem er die Richtigkeit einer Passage aus Suetonius bezüglich der
Fasti consulares
belegen wollte. Die mit der aktiven Hilfe seines Freundes, des Gräzisten Benedetto Egio, verwirklichte Fälschung konnte sich so einen Platz im
Corpus inscriptionum latinarum
( CIL XIV, 278) erobern, der seit dem 19. Jahrhundert die größte Bestandsaufnahme von Inschriften in lateinischer Sprache bildet. Andererseits befand sich Pirro (dem Augustìn sogar unterstellte, weder Latein noch Griechisch zu können) im Zentrum eines antiquarisch-gelehrten italienischen Umfelds, und laut Wissenschaftlern wie Ginette Vagenheim »war er nicht der einzige Verantwortliche für die vielen gefälschten in seinem Werk enthaltenen Inschriften (Epigraphie) und Münzen (Numismatik). Sondern es handelt sich in diesem |771| Fall einmal mehr um eine Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Gelehrten«. (Vgl. zum Beispiel David R. Coffin,
Pirro Ligorio: the Renaissance artist, architect and antiquarian,
University Park 2004, S. 21–22; Ginette Vagenheim,
Les Antichità Romane de Pirro Ligorio et l’Accademia degli Sdegnati
, in: M. Deramaix (Hrsg.), »Les academies dans L’Europe humaniste«, Paris 2008, S. 99, mit weiterführender Bibliographie).
Es ist interessant zu bemerken, dass derjenige, der allen voran versucht, Pirro und seine Fälschungen »freizusprechen«, ausgerechnet Anthony Grafton, der »autorisierte« Biograph von Scaliger, ist (vgl. sein
Forgers and Critics
, Princeton 1990, S. 126).
Gestaltlos und flüchtig bleibt das menschliche Profil Cassianos. Über mögliche Beziehungen zu Frauen
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