Das Mysterium der Zeit
gemacht.
Bis jetzt hat niemand die Schriften Jean Hardouins gelesen, und während wir es taten, bemerkten wir, dass die moderne Wissenschaft von seinem Werk kaum Kenntnis genommen hat. Es sind nur einige kleinere gedruckte Werke Hardouins im Umlauf, vor allem ein postum veröffentlichtes Heftchen,
Ad censuram scriptorum veterorum prolegomena
(London 1766), eine rasche Synthese seines Denkens, die das Glück hatte, noch einmal in moderner Zeit zu Anfang des vorigen Jahrhunderts in englischer Sprache zu erscheinen. Das Original hingegen erschien vierzig Jahre nach Hardouins Tod. In dem anonymen Vorwort, das dem nunmehr verstorbenen Jesuiten ausdrücklich feindlich gesinnt ist, wird des Autors mit einem Sonett gedacht, das ihn als
credulitate puer, audacia juvenis, deliris senex
(»leichtgläubig wie ein Kind, dreist wie ein Bub, verwirrt wie ein Greis«) beschreibt. Es ist uns nicht gelungen, die Originalhandschrift der
Prolegomena
aufzutreiben, von der der anonyme Herausgeber behauptet, er habe sie in der gedruckten Ausgabe gewissenhaft befolgt. Es fehlt also nicht an Zweifeln über die Echtheit oder auch nur Vollständigkeit des Textes.
Heute wird Pater Hardouin allgemein als armer, irrer Paranoiker eingestuft. Ähnlich wie es in der Sowjetunion mit den abtrünnigen Intellektuellen geschehen ist, wurden seine Ideen nicht mit philologischen Argumenten widerlegt, sondern mit psychiatrischen. Gewiss wird ihm sowohl heute als auch |776| zu seinen Lebzeiten eine unvergleichliche Bildung zugestanden (man erinnere sich an seine beispielhafte Ausgabe der
Historia Naturalis
von Plinius) und einen beachtenswerten Sachverstand auf dem Feld der Numismatik (Hardouin nutzte antike Münzen, um die literarischen Fälschungen zu entlarven). Im Allgemeinen werden seine Hypothesen aber ohne eine direkte Untersuchung abgetan. Man stützt sich höchstens auf die Argumente seiner Zeitgenossen – also auf die
Auctoritas
der Vorfahren, wie es die Geisteshaltung der vormodernen Gesellschaft wollte. Oder man behilft sich mit einer flüchtigen Lektüre der
Prolegomena
, deren handschriftliches Original aber seltsamerweise unauffindbar ist.
Keiner seiner Kritiker hat das Herzstück seines Werkes, die nicht publizierten Pariser Handschriften, gelesen. Doch Hardouins noch zu Lebzeiten veröffentlichte gedruckten Werke enthalten nur einige Leitideen. Der wagemutige Jesuit behauptete beispielsweise, dass die Werke der Antike vom stilistischen Standpunkt aus gesehen wenig glaubhaft seien (zum Beispiel Vergils
Aeneis
, die Hardouin schlechthin als plump und stark an die Abenteuerromane des Mittelalters angelehnt empfand); dass die abstrakten Doktrinen der Kirchenväter (Augstinus, Thomas von Aquin, Dominikus) und die endlosen, faden philosophischen und ketzerischen Moralschriften, die im Laufe der Jahrhunderte von den ökumenischen Konzilen (Konstantinopel, Ephesos, Nicäa, Chalcedon etc.) ausgeweidet worden waren, nichts anderes seien als Erfindungen skrupelloser Mönche, die daran interessiert gewesen seien, den christlichen Glauben zu verwässern und zu trüben. Hardouin fand schließlich heraus, dass viele der antiken Münzen gefälscht waren, um, so behauptete er, die ebenfalls gefälschten griechischen und lateinischen Klassiker zu bestätigen.
Die gewagte Behauptung, dass einige Konzile der katholischen Kirche nur historische, im Nachhinein konstruierte Täuschungen seien, ist in Wahrheit keine Erfindung Hardouins. Wie Naudé Atto Melani im Diskurs XCIII erinnert, hielt der Gräzist Leone Allacci, einer der Gelehrten, mit denen Bouchard in Kontakt stand, die Schriftstücke des berühmten achten Konzils von Konstantinopel für eine Täuschung und glaubte sogar, dass das Konzil selbst niemals stattgefunden habe. Eine Meinung, die auch der berühmte Humanist Antonio Possevino teilte (vgl. L. Canfora,
Il Fozio ritrovato; Juan de Marianae André Schott
, Bari 2001, S. 79). Wie man sieht, den bizarren Ideen des Jesuiten Hardouin fehlte es nicht an illustren Vorgängern. Auch seine so befremdliche Idee von hochgelehrten, weltabgeschiedenen Klostergemeinschaften, die sich in großem Umfang dem schändlichen Werk der historischen und literarischen Fälschung widmeten, ist nicht völlig ohne Anhaltspunkte. Das im |777| 5. Jahrhundert am Bosporus entstandene berühmte Kloster der Akoimeten (= die Schlaflosen) war von frommen Ordensmännern bevölkert, die sich Tag und Nacht im Gebet abwechselten, um dessen Kreislauf nie zu unterbrechen. Erst ab den
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