Das Mysterium der Zeit
der über neunhundert Namen griechischer Geschichtsschreiber zählt, fügt Canfora hinzu, ist uns vielleicht ein Vierzigstel des von hellenistischen Geschichtsschreibern produzierten Materials (S. 34) überliefert. Tatsächlich hat niemand eine Vorstellung davon, was die alten Griechen wirklich geschrieben haben.
So haben wir eine paradoxe Situation: Die Geschichtswerke der Antike müssen als authentisch gelten und werden in Schulen und Universitäten gelehrt, gleichzeitig könnten sie aber ebenso gut Frucht reiner Phantasie, abenteuerlicher Mutmaßungen und fataler ideologisch-historischer Kurzschlüsse sein. Diejenigen, die unsere vermeintliche Vergangenheit für politische Zwecke instrumentalisieren, machen ungestört weiter. Und im Laufe der Jahrhunderte folgten sie zu Hunderten aufeinander (darauf spielt auch Canfora an, S. 86ff.): von der protestantischen Revolution, die eine große Anhängerin von Tacitus war, bis zur Französischen Revolution, inspiriert vom protojakobinischen Mythos des phantomartigen Lykurg, von den Seufzern Rousseaus angesichts des Mythos der Attischen Demokratie (in Wirklichkeit größtenteils von der Sklaverei getragen) bis zur Monstrosität des Hitlerregimes, in dem die willkommene Wiederentdeckung der edlen Ursprünge der Germanen und ihres »nicht mit anderen Völkern« gemischten Bluts sich (Ironie des Schicksals?) auf die Worte Tacitus stützte. Für die ziemlich heikle Frage des Tacitus-Deutschlands verweisen wir auf unseren Roman
Die Zweifel des Salai
(Hamburg 2008).
Auch wenn sie heute rückläufig ist, geht die an den Schulen erzwungene Lehre der Antike auf Kosten der Verständlichkeit des Studienfachs. In den |795| Schulbüchern für den Lateinunterricht am Gymnasium, die wir im Italien der 80er Jahre benutzten, waren viele Seiten dem
Satyricon
des Petronius, dieser waschechten Schwulenkomödie, gewidmet, doch kein einziges Mal tauchten Worte wie »homosexuell« oder »impotent« auf, ebenso wenig wie sie über die Lippen unserer Lehrer kamen – Sinn und Natur dieses Romans blieben so vollkommen im Dunkeln.
Gerissene Mönche und leichtgläubige Nachwelt
Die Nachwelt in die Irre zu führen schien vornehmlich eine Teamarbeit zu sein. Dies lässt sich nicht nur aus dem Werk der griechischen Fälscherbanden des 16. Jahrhunderts um Darmarios oder Diassorinos, sondern auch bei den Mönchen schließen, die gemeinsam im Mittelalter tätig waren (hier kehrt man seltsamerweise zu den eigenwilligen Thesen von Hardouin und Kammeier zurück). Wir ließen Bouchard in seinen qualvollen Aufzeichnungen auf ein mittlerweile berühmtes Beispiel hinweisen: die Fälschungen der Mönche des Klosters Reichenau. Das alte, wunderschön auf einer kleinen Insel im Bodensee gelegene Kloster stand in enger Verbindung zu den benachbarten Mönchen aus St. Gallen, wo Poggio Bracciolini vorgab, seine erstaunlichen Funde gemacht zu haben. Karl Brandi, ein großer deutscher Historiker des 19. Jahrhunderts, rekonstruierte die verblüffende Geschichte des Klosters Reichenau (
Quellen und Forschungen zur Geschichte der Abtei Reichenau
, Band I:
Die Reichenauer Urkundenfälschungen
, Heidelberg 1890): Die Mönche produzierten über Jahrhunderte ein ganzes Universum an Fälschungen politisch-administrativer Art (Verträge, Diplome, Freibriefe), die ein regelrechtes Gebäude bilden, in dem jedes Schriftstück dazu dient, die anderen zu stützen. Brandi schreibt (ebd. S. V): »[…] erst eine umfassende kritische Prüfung der Fälschungen selbst kann aus ihnen die echten Kerne ausschälen […]. Ohne diese Arbeit ist von der Gründung der Reichenau bis etwa 1200 kein fester Boden zu gewinnen, eine Geschichte der Reichenau in dieser Zeit unmöglich.«
Die Sache ist voller beunruhigender Details: Um die Mitte des 14. Jahrhunderts soll Abt Eberhard von Brandis aus unbekannten Gründen einen Großteil der schriftlichen Dokumente des Klosters zerstört haben, sodass der Komplex von Reichenaus grenzenlosen Besitztümern aus den vorangegangenen Jahrhunderten nicht mehr rekonstruierbar ist. Vielleicht hatte Eberhard etwas zu verbergen? Vielleicht wurde in den Schriftstücken etwas von Reichenaus Vergangenheit erzählt, was nicht den tatsächlichen Gegebenheiten |796| entsprach, und er erfand deswegen die Geschichte ihrer folgenschweren Zerstörung. Wie wir schon erwähnten, wurden just um die Mitte des 14. Jahrhunderts zwei Drittel der Bevölkerung Europas von der schwarzen Pest ausgelöscht. Was davor geschehen war,
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