Das Mysterium der Zeit
musste zwangsläufig durch den Filter der wenigen Überlebenden gehen, die oft genug ein großes Interesse daran hatten, die Vergangenheit zu verbiegen.
Die Historiker scheinen die Geschichte nicht ernsthaft zu hinterfragen, stattdessen fordern sie uns auf, der offiziellen Version der Ereignisse Glauben zu schenken. Sogar moderne Fachbücher, die ausführlich die Geschichten Reichenaus und St. Gallens behandeln, sind sorgfältig bedacht, niemals das Wort »Fälschung« zu verwenden (vgl.
Gebhardt-Handbuch der deutschen Geschichte
, hrsg. v. R. Schieffer, Stuttgart 2001). Die Wahrheit aber ist, dass in fast allen mittelalterlichen Skriptorien (den Teilen der Klöster, in denen die Werke der Antike aufbewahrt und kopiert werden sollten) nach Akoimeten-Art massenweise falsche Schriftstücke produziert wurden. Der scheinbar auf der Hand liegende Grund für den Dokumentenschwindel ist fast immer der ewige politisch-administrative Guerillakrieg gegen die Autorität des weltlichen Kaiserreichs, das versuchte, den Abteien Güter und Rechte abzuerkennen. Manchmal aber sind die Gründe nicht geklärt. Die Namen dieser Produktionszentren von falschen Schriftstücken, die uns Texte von Cicero, Vergil, Kaisarios und Tacitus überlieferten, sind für die Philologen von einer mythische Aura umgeben: Fulda, Corvey, Reichenau, Fleury, Hersfeld, Melk und andere.
Nicht weit von Reichenau und St. Gallen befand sich zum Beispiel die Abtei St. Maximin in Trier. Sie gehörte, wie ein deutscher Historiker sie definiert, »zu den großen Fälschungszentren auf dem Boden des mittelalterlichen Deutschlands neben Fulda und der Reichenau […]«. Mit den Fälschungen von St. Maximin »[…] rühren wir nicht nur wissenschaftsgeschichtlich an die Ursprünge unserer Disziplin, sondern auch an die Tragfähigkeit der ihr eigenen Methodik.« (T. Kölzer,
Zu den Fälschungen für St. Maximin in Trier
, in: »Fälschungen im Mittelalter«, Internationaler Kongress der Monumenta Germaniae Historica, München 16.–19. September 1986, III, S. 315).
Verfälschungen oder Erfindungen werden auch dem großen Kloster von Fulda und dessen Abt Eberhard zugeschrieben (vgl.
Echte und gefälschte Termineiurkunden
, in: »Fälschungen im Mittelalter«, op. cit., III, S. 303f.). Im Fuldaer Zentrum, einer wichtigen Anlaufstelle für das Kopieren lateinischer Handschriften während des Mittelalters, lebten Mönche, die nicht zögerten, offizielle Dokumente auf die einfallsreichste Art und Weise zu manipulieren |797| und zu erfinden (vgl. E. Pitz,
Erschleichung und Anfechtung von Herrscher- und Papsturkunden vom 4.–10. Jahrhundert
, in: »Fälschungen im Mittelalter«, op. cit., III, S. 70–113 und A. Dopsch,
Zu den Fälschungen Eberhards von Fulda
, in: »Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung«, XIV (1893), S. 327ff.).
Ein anderes Beispiel ist die berühmte Benediktinerabtei von Corvey. Widukind von Corvey, der bekannteste sächsische Geschichtsschreiber des 10. Jahrhunderts, steht bei vielen Historikern unter dem Verdacht, seine Chroniken mit glühender Phantasie verfasst zu haben. Der Verdacht auf Betrug und Fälschung, stellenweise die Gewissheit, betreffen auch den namhaften Abt von Corvey, Wibald von Stablo (1098–1158), und vor allem die internen Dokumente der Abtei, die seiner Amtsperiode zugeschrieben werden: die
Annales Corbeienses
(von 1144–1159) sowie das Schenkungsregister des Abtes Saracho von Rossdorf (1010–1071). Zu Zeit von Wibald, Saracho und Widukind wurden in diesen Klöstern, laut der mündlichen Überlieferung, unzählige Manuskripte der großen römischen Dichter kopiert. Wo keine antiken Fälschungen vorhanden waren, sorgten, mit der Zeit gehend, Geschichtsschreiber nachfolgender Jahrhunderte dafür, weitere anzufertigen. Die ehrwürdigen
Annales Corbeienses
, die die Geschichte der Abtei vom 9. bis zum 12. Jahrhundert abdecken, sind in Wahrheit eine Fälschung, die sich dem protestantischen Pastor Johann Friedrich Falcke (1699–1756) verdankt, ebenso der
Chronicon Corbeiense
, eine fiktive Geschichte der Abtei vom 8. bis zum 12. Jahrhundert.
Melk und sein weltbekanntes Stift haben uns zwei berühmte, auf das 12. Jahrhundert datierte Fälschungen geschenkt: den
Melker Stiftbrief
, die Gründungsurkunde der Abtei, und das sogenannte
Ernestinum
, das lange Zeit für das älteste Zeugnis der Babenberger Dynastie gehalten und dann als gekonnter Schwindel eines listigen Mönchs entlarvt wurde. Auch die
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