Das Mysterium der Zeit
kaum klar und linear finden können.« S. 208: »Scaligers Bearbeitung des frühen ägyptischen Jahrs war ein Desaster. Er beschwor aus weiten Tiefen eine imaginäre Kreatur aus Missdeutungen und falschen Berechnungen herauf.« S. 245: »Nicht einmal Petavius [
der jesuitische Wissenschaftler, der Scaligers Arbeiten fortsetzte, A.d. V.
] machte alle groben Fehler in Scaligers Argumentationen zur Astronomie ausfindig […]. Dennoch enthüllen sie, welch dürftige Fähigkeiten Scaliger bis zum Jahr 1583 erworben hatte, und wie eingeschränkt er in den darauffolgenden Jahren die grundlegenden Verfahren der astronomischen Wissenschaft zur Berechnung der Länge des Jahres, der Präzession der Tagundnachtgleiche, des Auf- und Untergangs der Fixsterne beherrschte – Themen, die jemand, der sich dem Studium antiker Kalender widmet, nicht einfach missachten oder falsch verstehen kann.« S. 186: »Der von Scaliger rekonstruierte babylonische Schaltzyklus war, wie der griechische, ein Phantasiegebilde.« S. 172: »Scaligers Theorie war nicht logischer […] als die vieler seiner Nachfolger: eine Reihe nervlich zerrütteter Gelehrter und neurotischer Bildungsphilister, deren Abfolge in den Jahrhunderten Brueghels
Parabel von den Blinden
gleicht.«
Um den Ruf seines Studienobjekts nicht völlig zu zerstören, muss Grafton natürlich auch einige oberflächliche Aussagen unterbringen, die in totalem Widerspruch zum Vorangegangenen stehen. Zum Beispiel S. 188: »Scaliger wertete die Quellen mit großer Vorstellungskraft aus, aber selten unterdrückte |800| er Zeugnisse oder zwang ihnen Aussagen gegen ihren ausdrücklichen Willen ab.« Oder (S. 172): »Was auch immer seine Fehler gewesen waren, er hatte auf jeden Fall die Daten zusammengestellt und die Fragestellungen formuliert, an denen Scharen von gelehrten Chronologien in den nachfolgenden Jahrhunderten ihren Verstand schärfen sollten.«
Worin besteht also bei aufrichtiger Überlegung die Besonderheit Scaligers?
Sicherlich in der befremdlichen Unterstützung seitens seiner uneinsichtigen Hagiographen, die trotz der offensichtlichen Fälschungen des Sohnes von Giulio Bordon nicht aufhörten, ihn seit Jacob Bernays, seines ersten unkritischen Biographen, zu loben. Also zu einer Zeit, als Scaligers Betrug bei der Auflistung der Olympischen Spiele schon längst ans Licht gekommen war.
Papyri
In den letzten Jahrzehnten erlebt man die fast verzweifelte Suche nach der Bestätigung klassischer Texte durch Papyri-Funde, die üblicherweise älter sind als die mittelalterlichen Handschriften, in denen uns fast alle griechisch-römischen Klassiker überliefert wurden.
Wenige jedoch bedenken, wie es unser Bouchard in seinen bitteren Überlegungen tut, dass es Papyrus in Ägypten seit gut tausend Jahren nicht mehr gab. Die Pflanze wurde nach mindestens zehn Jahrhunderten Abwesenheit erst in den 60er Jahren von uns Modernen wieder ins Land der Pharaonen eingeführt.
Dass die Ägypter Papyrus tatsächlich produzierten und als Schreibmittel verwendeten, ist wiederum von denselben griechisch-lateinischen Texten bezeugt (zum Beispiel Plinius), deren Authentizität man mit den Papyri selbst zu untermauern versucht.
Um sich der Schwierigkeit bewusst zu werden, in die man auf diesem Wege gerät, denke man nur an den sogenannten Papyrus des Cornelius Gallus, einem mit Vergil befreundeten Autor aus dem 1. Jahrhundert n. Chr., von dem uns so gut wie nichts überliefert ist. In den wenigen Versen, die wir von ihm haben, ist die Rede von einer gewissen Lycoris. 1978 wird auf einmal ein Papyrus eines gewissen Gallus gefunden, der zufällig eine Lycoris erwähnt. Eine Sensation! Leider erkennt ein nicht so leichtgläubiger Wissenschaftler bereits wenig später in dem Papyrus eine ziemlich plumpe Fälschung (vgl. F. Brunhölzl,
Der sogenannte Galluspapyrus von Kasr Ibrim
, in: »Codices Manuscript«, |801| 10 (1984), S. 33–40), wo der betrügerische Verfasser, damit sich alles auf Vergils Freund Gallus zurückführen ließ, auf wenigen Zeilen einige einschlägige Personennamen und literarische Indizien eingefügt hatte.
Doch es gibt auf dem Gebiet falscher Papyri oder Sinnestäuschungen, denen Papyrologen unterliegen, noch amüsantere Fälle, wie die unglaubliche Geschichte, in der das ägyptische Museum Berlin-Charlottenburg die Hauptrolle spielt. Die Kuratoren des Museums präsentierten den deutschen Medien einen Papyrus, auf dem in griechischer Sprache vertraglich festgehalten wird, dass ein
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