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Das Mysterium der Zeit

Titel: Das Mysterium der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi , Sorti
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Authentizität der beiden bewahrt. Einziger Schönheitsfleck dieser Methode: die hypothetische gemeinsame Quelle (eben die »Enmannsche Kaiserchronik«)
wurde niemals entdeckt, und weder durch Funde von Fragmenten belegt noch von irgendeinem lateinischen Autor zitiert
. In wenigen Worten: Um ein konkretes Phänomen zu erklären (Widersprüchlichkeiten in den Überlieferungen zweier Autoren und Verdacht auf Fälschung oder Verunreinigung der historischen Daten), behalf man sich mit einem abstrakten Pseudophänomen.
    Auf dieser unhaltbaren Grundannahme baute man weiter auf und gab Hypothesen häufig den Wert (oder zumindest den Anklang) von sichergestellten Tatsachen. Legionen von Historikern behaupteten fortan jeweils, dass die Enmannsche Kaiserchronik die Erzählung von der Schlacht bei Actium (31. v. Chr.) enthalte; dass sie die Ereignisse bis 337 oder 357 n. Chr. beschreibe; dass sie um die Mitte des 4. Jahrhunderts veröffentlicht wurde; dass drei verschiedene Fassungen von ihr existierten; dass sie Teil einer viel umfangreicheren Ausgabe war, die die gesamte Geschichte Roms enthielt; dass der Verfasser kein Christ war und aus dem Westen des Reiches stammte, sogar ein Gallier war, um genau zu sein; und dass die Chronik auch von den Geschichtsschreibern Ammianus Marcellinus und Rufius Festus benutzt wurde. Man ging sogar so weit, detailliert die innere Struktur der in Enmanns erfundener Erzählung enthaltenen römischen Kaiserbiographien zu beschreiben und zu behaupten, dass sie im 3. Jahrhundert die beliebteste der Geschichten Roms war (gerade dann ist schwer nachzuvollziehen, warum ausgerechnet sie verlorenging und andere, weniger beliebte Geschichtsschreibungen nicht).
    Schließlich behaupteten einige Philologen sogar, dass ihr Verfasser ein gewisser Eusebius von Nantes war, von dem nichts bekannt ist, außer dass er ein (verlorenes) Geschichtswerk schrieb, dass (vielleicht) der spätrömische Dichter Ausonius nutzte, um eines seiner (verlorenen) Werke zu schreiben. Von Eusonius sagt man, dass er (vielleicht) Gallier und gebürtig aus Nantes war, dass er (vielleicht) mit Ausonius verwandt war und sein Werk (vielleicht) die Geschichte der Usurpatoren, der Tyrannen, die im Rom des 3. Jahrhunderts auftauchten, enthielt. Aber vielleicht war Eusebius von Nantes auch niemand anderes als der berühmte Geschichtsschreiber Euesbios, der ein (verlorenes) Geschichtswerk verfasst hatte, das (vielleicht) die Zeit von Kaiser Augustus bis (vielleicht) zum Kaiser Marcus Aurelius Carus schildert.
    Diese nebulösen Konstellationen, in denen sich Vermutungen auf andere Vermutungen stützen, sind das täglich Brot der Philologie. Dies wäre nach allem sogar legitim – wenn sie sie nicht als Wahrheiten ausgegeben würden. |792| Der linguistische Aspekt ist entscheidend: Wenn der normale Leser liest, ein Argument sei »nachgewiesen«, »belegt«, »widerlegt« oder »ausgeschlossen«, wird er dazu gebracht zu glauben, dass neue Beweise bezüglich der Echtheit der Dokumente vorgestellt werden. Stattdessen handelt es sich nur um
Meinungen
oder
Schlussfolgerungen
, die an die Stelle anderer Meinungen und Schlussfolgerungen getreten sind. Einige Experten behaupteten beispielsweise, dass es neben der Enmannschen Chronik eine weitere, von Svetonio Aumentato geschriebe Chronik gegeben hätte. Später verlor auch diese Theorie an Glaubwürdigkeit, da, so die philologischen Texte, »nachgewiesen« worden sei, dass Svetonio Aumentato eigentlich den ersten Teil der Enmannschen Chronik darstelle (W. Burgess,
On the date of the Kaisergeschichte
, in: »Classical Philology«, 2 (1995), S. 112). Tatsächlich war aber nichts bewiesen worden, da sowohl die Enmannsche Kaisergeschichte als auch Svetonio Aumentato nur virtuelle Konstrukte sind, die keiner je zu Gesicht bekommen hat und vermutlich auch keiner je zu Gesicht bekommen wird. Mit dem suggestiven Ausdruck »nachgewiesen« wurde der Leser dazu gebracht zu glauben, dass es
neue Tatsachen
gäbe (Entdeckung neuer Dokumente, Entlarvung von Fälschungen, archäologische Funde …), um eine Chronik Svetonio Aumentatos auszuschließen. Stattdessen gab es nur neue
Interpretationen
, die im engen Kreis der Spezialisten zu einem bestimmten Zeitpunkt die Oberhand gewannen.
    Einmal in die popularisierenden Institutionen der Schulen, Universitäten, Ausstellungen, Zeitungen, des Fernsehens und des Internets gelangt, werden die Zettelkästen der Philologen als Festungen der Wahrheit ausgegeben. Die

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