Das Mysterium der Zeit
Fund des Sarkophags von Tarragona, im Jahr 1916, wurde ein weiterer Teil von ihm gefunden und man begann von vorne: Der amerikanische Gelehrte A.L. Fottingham taufte das neue Fragment: »Die Phönix-Tafel von Tarragona« und deutete die beiden auf dem Bruchstück sichtbaren Figuren, eine weibliche und eine männliche, als die Gottheiten Baal und Tanit, und die eigenartige Spirale zwischen ihnen als die Darstellung eines von dem Paar mit Wasser und Feuer genährten Embryos. Es mussten weitere fünf Jahre vergehen, bis die Komödie ein für alle Mal aufgeklärt wurde (hiermit beschäftigt sich P. Paris in »Révue Archéologique«, 5 a s., XIV (1921), S. 146–157).
Fälscher und zügellose Spaßvögel
Einer Frage muss man sich stellen: Ist es möglich, dass auch heute noch chronische Fälscher existieren, die wie die griechischen Kopisten des 16. Jahrhunderts fast zwanghaft überall ihre Fallen auslegen, um die Wahrnehmung der Zeit in den kommenden Generationen durcheinanderzubringen?
|805| Der Codex Sinaiticus aus dem 4. Jahrhundert, der als ältester Kodex die Bibel enthält, wurde im 19. Jahrhundert unter unklaren Umständen in einem palästinensischen Kloster von dem Philologen Tischendorf entdeckt, der daraus am Hof des Zaren sofort eine prachtvolle Fest-Ausgabe machen ließ. Danach erklärte der berüchtigte Simonides unter Anführung zahlreicher Details, dass es sich um eine von ihm angefertigte Fälschung handelte. Ihm wurde nicht geglaubt.
Im Italien der 80er Jahre wurden in Livorno aus einem Wassergraben drei Marmorköpfe ans Licht gebracht, die dem aus Livorno stammenden Amedeo Modigliani zugeschrieben wurden. Aufsehenerregend! Man feierte den hundertsten Geburtstag des großen Künstlers, und die renommiertesten Kritiker beschworen im Fernsehen vor Millionen von Zuschauern die Authentizität der Fundstücke. Bis einige Studenten mit Sinn für Humor ihre Fälschung anhand von Fotos und Videos dokumentierten, in denen man sie mit einem Schlagbohrer und der Hilfe eines Bildhauers die drei Köpfe formen sah, um sie anschließend in den Graben zu verfrachten. Und ihnen musste man glauben.
Die Historie der wissenschaftlichen Fälschungen bejaht also die Frage und liefert obendrein eine umfangreiche und manchmal erheiternde Statistik, die einmal mehr belegt, wie sehr Wissenschaftler es lieben, sowohl zu blenden als auch geblendet zu werden. Die Leichtgläubigkeit entspringt nämlich weniger der Weigerung, zu glauben, als vielmehr der Weigerung zu überprüfen. Unter vielen Episoden ein jüngerer Fall: Professor Reiner Protsch, deutscher Anthropologe und Dozent am renommierten Institut der Anthropologie und Humangenetik für Biologen in Frankfurt. Nach fast dreißig Jahren ehrenvoller Tätigkeit und Anerkennung auf internationalem Niveau wird Protsch vom Dienst suspendiert und im Februar 2005 gekündigt. Was war geschehen? Man hatte entdeckt, dass der angesehene Professor bewusst falsche wissenschaftliche Daten einer Vielzahl von prähistorischen Knochenfundstücken, vor allem von Schädelfragmenten der Neandertaler, produziert hatte: Er hatte die Schädel stark zurückdatiert und sie somit wesentlich älteren Epochen zugeordnet als den realen. Danach verschwanden die Fundstücke, denen Protsch in seinen Berichten ein außergewöhnliches Alter bescheinigt hatte, auf mysteriöse Weise, bevor sie von anderen untersucht werden konnten (eine Abfolge, die interessanterweise an die Biographie Poggio Bracciolinis erinnert). Protsch wurde beschuldigt, er habe wissenschaftliche Funde und Materialien, die von Ärzten und Forschern wie dem berüchtigten Josef Mengele im Dritten Reich verwendet worden waren, verschwinden lassen, nachdem er vorher ihre Existenz bestritten hatte. Dabei kam die seltsame Blindheit der universitären Welt |806| ans Licht: Man hatte Protsch einen akademischen Grad verliehen und ein Gehalt bezahlt, auf das er kein Anrecht hatte, da er weder die entsprechenden Studienabschlüsse noch eine Habilitation besaß. Nur ein kolossaler Fehler seinerseits hatte ihn in die Falle geführt: Er hatte, ohne die notwendige Erlaubnis der deutschen Behörden einzuholen, versucht, einem amerikanischen Kollegen für 70 000 Dollar eine Sammlung von 278 Schädeln afrikanischer Affen zu verkaufen, die eigentlich seiner Universität gehörten. Zuletzt wurden strengste Disziplinarverfahren eingeleitet, die Staatsanwaltschaft interessierte sich für den Fall und Protsch wurde strafrechtlich vor Gericht verurteilt. Das
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