Das Mysterium der Zeit
vorläufige Resümee der Affäre ist, neben der Kündigung und der öffentlichen Demütigung des Übeltäters, dass sich die internationale wissenschaftliche Gemeinschaft gut dreißig Jahre lang, in denen Protsch wissenschaftliche Instrumente und Fundstücke gefälscht, entwendet und zerstört hatte, aber vor allem die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung verunreinigt hatte, an der Nase hat herumführen lassen. Viele seiner Arbeiten waren nämlich von angesehenen Anthropologen und Paläontologen unterschrieben worden. Schließlich wurde das Institut, dessen Präsident er war, geschlossen. Welche und wie viele irreführende wissenschaftliche Daten Protsch bei seinen Kollegen aus aller Welt in Umlauf gesetzt hat und zu wie vielen gegenstandslosen wissenschaftlichen Arbeiten sie Anlass gegeben haben, ist bis zum heutigen Tag nicht bekannt.
Etwas fällt ins Auge: Wie bei den Fälschern vor vierhundert Jahren zielt der Betrug auch im Fall des Anthropologen Protsch darauf ab, die Vergangenheit zu verlängern. Über die ideologischen, politischen oder finanziellen Ziele hinaus sieht die menschliche Rasse sich offenbar gerne als alte Spezies. Das biologische Bedürfnis nach einer unendlichen Zeit richtet sich nicht nur auf die Zukunft, sondern auch in die Vergangenheit. Vielleicht gibt ein sehr alter Planet Anlass zur Hoffnung, noch lange zu existieren.
Platon und Aristoteles
Die an sich schon märchenhafte, unglaubliche Geschichte der Handschriften des Aristoteles entnahmen wir den Berichten einiger angesehener Wissenschaftler: J. Bidez,
Un singulier naufrage littéraire dans l’antiquité. À la recherche des épaves de l’Aristote perdu
, Bruxelles 1943; L. Canfora,
La biblioteca scomparsa
, Palermo 1986- 10 2000; E. Zeller,
Die Philosophie der Griechen. Eine Untersuchung über Charakter, Gang und Hauptmomente ihrer Entwicklung
, II/2, Tübingen 2 1862. Der Begriff »Loch« für den Ort, an dem die Erben das |807| einzige, äußerst wertvolle Exemplar der Werke des Aristoteles vergruben, stammt von Canfora (ebd., S. 67).
Man beachte, dass der aberwitzigen Erzählung von Plutarch und Strabo über die Überlieferung der aristotelischen Texte, die heute ein großes Revival erleben, schon im 19. Jahrhundert kein Glauben geschenkt wurde, und dass die Debatte über Platons Werke damals dazu geführt hatte, etwa die Hälfte der Dialoge, die heute für authentisch gehalten werden, als unecht zurückzuweisen.
Zu Schoppes Erzählung über die Bibliothek von Alexandria kann erneut
La biblioteca scomparsa
von Canfora konsultiert werden, um sich vor Augen zu führen, dass die Zweifel an der Existenz der berühmtesten Büchersammlung der Antike, zumindest so wie sie von der Überlieferung (sowie von den Medien und Fremdenverkehrsagenturen) verbreitet wurde, mittlerweile seit einigen Jahrzehnten bestehen.
Der Unsicherheit, die unangefochten über das Leben des Aristoteles herrscht, entspricht der über die Biographie Platons. Wie Giovanni Reali, ein großer italienischer Platon-Forscher, bemerkt, »passt im Grunde alles, was wir [über Platon] wissen, oder zumindest mit Gewissheit über ihn wissen, auf eine halbe Seite«.
Im 19. Jahrhundert wurde die Hälfte der Dialoge Platons als unecht angesehen. Das Misstrauen in Bezug auf die Texte flaute mit der Zeit ab, und die Mehrzahl der verdächtigten Schriften ist heute, vielleicht mit einer gewissen Erleichterung der wissenschaftlichen Gemeinschaft, in den offiziellen Kanon der platonischen Werke aufgenommen.
Synkellos und der Nebel von Byzanz
»Die Fälscher hatten durchaus nicht die Absicht, die Daten und Fakten in den byzantinischen Chroniken aufeinander abzustimmen, im Gegenteil, sie wollten sie so verworren, verwickelt und widersprüchlich wie nur möglich machen. Ihr Ziel: freie Hand zum Erfinden haben, ohne sich um Inkongruenzen kümmern zu müssen. Historiker wissen sehr gut, dass keine seriöse Geschichte der byzantinischen Kultur geschrieben werden kann.«
Diese imaginäre Aussage aus Bouchards Überlegungen, die wir ihm angedichtet haben, findet ihre Bestätigung in dem wirklichen Satz eines Gelehrten, der vor etwa hundert Jahren ausgesprochen wurde:
»Die Geschichte der byzantinischen Gesellschaft wird noch viele Jahre lang |808| nicht geschrieben werden. Sie kann so lange nicht geschrieben werden, bis jede darauffolgende Epoche gründlich untersucht wurde und ihre charakteristischen Merkmale klar bestimmt wurden.«
Dies sind die Worte des großen Byzantinisten
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