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Das Mysterium der Zeit

Titel: Das Mysterium der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi , Sorti
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offen damit gebrüstet, ganze Mannschaften von Schreibern zu befehligen, die fähig waren, jeden antiken Schriftstil nachzuahmen: Es scheint fast, als hätte er provokativ dazu auffordern wollen, an seinem Talent als Trüffelschwein zu zweifeln.
    |810| Die Schatten, zu viele um sie sämtlich zu vertreiben, bleiben also. Welcher und wo der komplette Quintilian ist, den Poggio in St. Gallen entdeckt haben will, und welcher der ist, den er kopiert hat, konnte man nie mit Gewissheit herausfinden. Mehrere Handschriftensammlungen und Bibliotheken beanspruchen diese Ehre für sich, in einigen Fällen auf ziemlich unbeholfene Art und Weise.
    Laut der Webseite der Universität von Illinois (siehe http://imagesearch . library.illinois.edu/cdm4/item_viewer.php? CISOROOT=/classics&CISOPTR= 263&CISOBOX=1&REC=1, zum letzten Mal vor dem Druck dieses Buches besucht) befindet sich der Kodex Quintilian, den Poggio in St. Gallen entdeckt hatte, in Zürich: auf seinen Seiten tauchten nämlich die Notizen »15 rige«, »20 rige« usw. auf. Dies soll ein Beweis dafür sein, dass er von Italienern benutzt und kopiert wurde. Den Verfassern der Webseite entgeht aber, dass »rige« kein italienisches Wort ist (wenn überhaupt ist es »righe« als Plural von »riga«), sondern
niederdeutsch
(vgl. unter dem Schlagwort
riga
in C. Ducange,
Glossarium Latino-Germanicum mediae et infimae aetatis. Supplementum lexici mediae et infimae latinitatis
, Francofurti 1857, S. 498). Dies ist der Kodex, auf den Bouchard in seinen Aufzeichnungen Bezug nimmt, als er mit Verachtung von den angeblichen Unternehmungen Poggios und seiner Freunde spricht.
    Es ist bekannt, dass direkte Beziehungen zwischen Poggios Wiederentdeckungen der Werke von Manilius, Silius und Statius und den Fälschern aus Reichenau bestehen (vgl. P. Thielscher,
Ist »M. Manilii Astronomicon Libri V« richtig?
, in: »Hermes«, 84/3 (1956), S. 353–372).
    Andererseits hat Poggios gesamter
modus operandi
, jeder seriösen Überprüfung feindlich gesonnen, Nachahmer von nicht geringem Stellenwert gehabt. Der deutsche Humanist Beatus Rhenanus (1485–1547) behauptete, dass einzige existierende Manuskript des historischen Werks von Velleius Paterculus in der aus Reichenau hervorgegangenen Abtei zu Murnau im Elsass gefunden zu haben. Er hatte es, so berichtete er, dank eines unerklärlichen Glücksfalls ausgegraben. Kaum kopiert, verschwindet das Manuskript, das die Jahrhunderte auf wundersame Weise überstanden hatte, erneut und für immer.
    Auch die Zeugen der Funde zu Poggios Lebzeiten waren imstande, literarische Dokumente
»à la maniere de«
so zu erstellen, dass sie selbst ihre abgeklärtesten Zeitgenossen täuschen konnten. So zum Beispiel der päpstliche Sekretär Piercandido Decembrio, dessen vorgetäuschte lateinische Gedichte aus seiner Jugendzeit viele Zeitgenossen, unter ihnen sogar Niccolò Niccoli, Poggios Kompagnon, in die Irre führten (vgl. D. Schaps,
The Found and Lost Manuscripts
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of Tacitus’ Agricola
, in: »Classical Philology«, 74/1 (1979), S. 28–42, und W. Speyer,
Die literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum
, München 2 1971, S. 317). Die literarische Fälschung zählte auch berühmte Namen wie Leon Battista Alberti zu ihren Anhängern (vgl. A. Grafton, G. W. Most, S. Settis,
The classical tradition
, Harvard 2010, S. 138). Als eine Art Bewährungsprobe für erlesene, geistreiche Köpfe, eine ebenso raffinierte wie spielerische Übung war das Schmieden von falschen lateinischen oder griechischen Originalen weit verbreitet und wuchs auf demselben Nährboden, der auch das seltsame, unsinnige und höhnische Spiel hervorgebracht hatte, das Poggio – sich über die Maßen bereichernd – unter den Augen ganz Europas spielte.
    Die Schlachten von Meloria und Punta Salvore
    Wie Kemal andeutet, nachdem er sich mit Barbello, Atto und dem Secretarius auf den Turm der Meloria geflüchtet hat, fand die Schlacht von Punta Salvore zwischen der venezianischen und der römischen Flotte niemals statt und ist eine reine Erfindung der Serenissima zu propagandistischen Zwecken. Die These wird zum ersten Mal in den
Annales Ecclesiastici
des Kardinals Baronius (1605–1612) aufgestellt, wie J. Fried in
Der Schleier der Erinnerung
, op. cit., S. 157 ff. darlegt.
    Ähnliche Zweifel könnten an der anderen vom Barbaresken angesprochenen Schlacht geäußert werden: die berühmte Seeschlacht bei Meloria zwischen Pisa und Genua im Jahr 1284. Obwohl in der

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