Das Mysterium der Zeit
J.B. Bury aus dem Jahr 1912. An sie erinnerte 1979, gut 60 Jahre und einige tausend wissenschaftliche Abhandlungen und Artikel später, ein anderer hervorragender Byzantinist, Warren D. Treadgold, (
The Chronological Accuracy of the »Chronicle« of Symeon the Logothete for the Years 813–845
, Dumbarton Oak Papers, 33, (1979), S. 157–197), der kommentierte: »Vermutlich würde kein Byzantinist sagen, dass die von Bury gestellte Aufgabe heute kurz vor ihrer Lösung steht, auch wenn einige Nicht-Byzantinisten fälschlicherweise glauben, dass auf dem Feld der byzantinischen Studien die Grundlagen schon gelegt sind. Das Buch, für das Bury mit diesen Worten die Einleitung schrieb, ist noch immer unser Standardtext für die erste Hälfte des 9. Jahrhunderts […] Der Großteil der Probleme, die Bury offen gelassen hat, ist weiterhin ungelöst.«
Treadgold fügt hinzu: Nach 867 n. Chr. »haben wir keine historischen Erzählungen, bis wir zu den Werken von vier Autoren des 10. Jahrhunderts kommen: Simon Logothetes, Pseudo-Simeon, Ioseph Genesios und sein Nachfolger Teophanes. In der Erzählung der Ereignisse, die ihnen hundert Jahre und mehr vorausgingen, widersprechen die ersten beiden unrettbar den zwei Letzteren und alle zeigen Spuren von Verwirrungen. Das Ergebnis ist, dass moderne Wissenschaftler je nachdem entweder die eine oder die andere Version übernehmen, und was die Zeitangaben betrifft, können sie nur raten. Genesios und Teophanes Nachfolger wurden so eindeutig als Chaosstifter in der Zeitrechnung und als Urheber wissentlicher Fälschungen identifiziert, dass man sie, so schlussfolgert Henry Grégoire, »mit dem größten Misstrauen lesen und voraussetzen muss, dass sie zu allem fähig waren«.
Wenn der eine oder andere Leser also glaubt, Bouchards Aufzeichnungen über die Fälschungen der byzantinischen Geschichtsschreiber seien übertrieben, wird er seine Meinung nach diesem kurzen exemplarischen Abschnitt vielleicht noch einmal ändern.
Augustinus und kein Ende
Während uns Ägyptens Sandwüsten in regelmäßigen Abständen amüsante und unvorstellbare Episoden wie die des Hearst-Papyrus liefern, dauern auch in Europa die unaufhaltsamen, wundersamen Funde von Pergamenten an. In |809| Erfurt hat ein Manuskript aus dem 12. Jahrhundert jüngst nichts Geringeres als sechs bisher unbekannte Predigten des heiligen Augustinus zutage gefördert. Das Staunen der Spezialisten war unbeschreiblich: Wie konnten sie Scharen von Dozenten und Studenten, die den Kirchenvater jahrhundertelang ohne Unterlass studiert, übersetzt und veröffentlicht hatten, entgangen sein? Der englische Gelehrte Peter Brown definierte den Fund als so »unwahrscheinlich wie ein Exemplar der ersten Ausgabe Shakespeares in irgendeinem Antiquariat zu finden«. Natürlich äußerte niemand offen den Verdacht, dass es sich um einen unechten Augustinus aus der Feder irgendeines Mönches hätte handeln können. Und dies ist schon der dritte Fund bis dato unbekannter, einziger Exemplare von Augustinus-Texten innerhalb von knapp dreißig Jahren. Wichtig ist, einmal mehr, daran zu glauben.
Poggio, der Supermann, und seine Zeugen
Bouchards gesamte Erzählung (Diskurs IC) von den seltsamen Handschriften-Funden, die Poggio Bracciolini im Kloster von St. Gallen machte, ist den Briefen Poggios und seiner Freunde sowie allgemein anerkannten Quellen der offiziellen Philologie entnommen. Im 19. Jahrhundert erhoben sich einzelne Stimmen, die den Held der aufkommenden Philologie beschuldigten, die Werke von Tacitus gefälscht zu haben.
Im 20. Jahrhundert brandmarkte der Gelehrte Leo Wiener die
Germania
von Tacitus, mit dessen Entdeckung sich der gerissene toskanische Emporkömmling geziert hatte, als »stumpfsinnige Fälschung«. Nichtsdestoweniger werden die Geheimnisse um Poggios unglaubliches Glück als Entdecker von Manuskripten heute ohne allzu großes Misstrauen akzeptiert, obwohl die Echtheit einiger uns überlieferter Werke ausschließlich von seinem Wort als Ehrenmann abhängt: Wir müssen also seinen Berichten trauen, wenn er erzählt, dass er dieses oder jenes Manuskript entdeckt, dass er es kopiert und dann das Original verloren habe. Dies geschah zum Beispiel mit den Werken von Silius Italicus, Asconius Pedianus und Statius. Wer diesem abgefeimten Abenteurer, der sich mit dem Handel von Manuskripten bereicherte, blind trauen möchte, dem steht es frei, dies zu tun. Wie Bouchard in seinen düsteren Überlegungen anmerkt, hatte Poggio sich
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