Das Mysterium der Zeit
Überlieferung versichert wird, dass gut zehn pisanische Schiffe in den Untiefen der Meloria versanken, ergaben sämtliche Unterwassergrabungen vor Ort ein negatives Resultat. Zwar wurden Überreste römischer Schiffe gefunden, aber von mittelalterlichen Waffen, Galeeren oder anderen Artefakten keine Spur (vgl. S. Bargagliotti, F. Cibecchini, P. Gambogi,
Prospezioni subacquee sulle secche della Meloria: alcuni risultati preliminari
, in: »Atti del Convegno Nazionale di Archeologia Subacquea. Anzio 1996«, hrsg. v. AIA Sub, Bari 1997, S. 43–53).
Schließlich muss angemerkt werden, dass in der von mittelalterlichen Chronisten überlieferten Liste der Kämpfer in der Schlacht bei Meloria nur erfundene Namen auftauchen (vgl. E. Cristiani,
I combattenti della battaglia della Meloria e la tradizione cronistica
, in: »Bollettino storico livornese«, n.s. II/1 (1952), S. 13–23).
Vielleicht ist Kemals Skepsis gegenüber den verhassten Nazarenern und ihren Geschichtsschreibern nicht völlig haltlos.
|812| Gegen Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlichte der französische Gelehrte Polydore Hochart seine Abhandlung über die hypothetischen Fälschungen des Tacitus von Poggio Bracciolini; seltsamerweise vergingen nur wenige Jahre, bis 1906 unter ungewöhnlichen Umständen und an einem ungewöhnlichen Ort das wertvollste und älteste Manuskript der
Germania
von Tacitus auftauchte. Sonderbarer Zufall.
Im Spiel der Wiederkehr der Geschichte ist nach dem Erscheinen dieses Buches also nicht ausgeschlossen, dass irgendein toskanischer Fälscher, irgendein Nachahmer der Modigliani-Spaßvögel, schnell eine Hakenbüchse oder einen schönen mittelalterlichen Krug bei der Meloria ins Wasser wirft, um sie dann von einem befreundeten Taucher finden zu lassen und das Wunder zu verkünden: Die Schlacht bei Meloria lebt wieder. Auf das geschriebene Wort reagiert die Welt immer, und in solchen Fällen ist der Autor leider machtlos.
Gastmahl mit Überraschungsbesuch
Aus dem Gastmahl des Trimalchio haben wir eine eklatante Fälschung gemacht, die wir Poggio Bracciolini zuschreiben. Der Leser, der uns diese Kühnheit nicht verzeihen möchte, sollte jedoch wissen, dass nicht einmal diese Idee eine pure Erfindung ist.
Das Gastmahl des Trimalchio ist Protagonist einer der obskursten und beunruhigendsten Begebenheiten in der gesamten Geschichte der antiken Literatur. Wie Experten versichern, war das
Satyricon
, diese zügellose Schwulenkomödie über Giton und Encolpius, die von nymphomanischen Matronen und sadistischen Priesterinnen gequält, von dunklen Flüchen verfolgt, von Betrügern und Schwindlern bedroht und von Eifersucht und Impotenz geplagt werden, schon im Mittelalter im Umlauf. In den antiken Handschriften stürzten die beiden Protagonisten sich mitten in ihren unglücklichen Abenteuern in eine riesige Orgie im Haus des Freigelassenen Trimalchio. An diesem Punkt brachen die Erzählungen aber ab, um ganz woanders wieder einzusetzen: Alle existierenden Kopien gingen offensichtlich auf ein- und dasselbe unvollständige Exemplar zurück.
Im Jahr 1664 erscheint in Padua plötzlich eine neue Ausgabe des
Satyricon
mit einer aufsehenerregenden Neuheit: der Fortsetzung und dem Ende des Gastmahls des Trimalchio. Sofort kommen Zweifel und Polemiken auf (vgl. die an diesem Punkt einsetzende Rekonstruktion von N. Pace,
Ombre e silenzi
|813|
nella scoperta del frammento di Petronio e nella controversia sulla sua antichità
, in: P.F. Moretti, C. Torre, G. Zanetto (Hrsg.),
Debita dona: studi in onore di Isabella Gualandri
, Napoli 2008, S. 373–399).
Das
Satyricon
war in mehreren handschriftlichen Kopien schon seit Jahrhunderten im Umlauf; einige Passagen waren von antiken Autoren, wie Johannes von Salisbury im 13. Jahrhundert, zitiert worden. Wo kommt der neue Text mit dem kompletten Gastmahl also plötzlich her? Von einem im fernen Traù (heute Trogir), Dalmatien, wiedergefundenen Manuskript, wird behauptet. Einem Sammelkodex, der neben Petronius auch einige Gedichte von Tibull, Properz, Catull, Vergil (das
Moretum
), den
Phoenix
von Claudian und einen anonymen Brief an einen gewissen Leone Ebreo enthält. Der Kodex, der quasi aus dem Nichts auftaucht, ist also der einzige auf der Welt, der das komplette Gastmahl des Trimalchio überliefert: Das Risiko einer Fälschung ist unvermeidlich. Aus der Einleitung der Druckausgabe erfährt man, dass das Manuskript, das nach dem lateinischen Namen des Fundorts Traguriensis genannt wird, um 1645
Weitere Kostenlose Bücher