Das Mysterium der Zeit
entdeckt wurde. Es war also gut 18 Jahre versteckt gewesen, bevor es den Schriftsetzern zur Veröffentlichung geschickt wurde. Warum so lange?
Doch es gab noch mehr seltsame und unerklärliche Umstände. Der Kodex Traguriensis war von dem Humanisten Marino Statilio, der in Padua gerade seinen Abschluss in klassischer Philologie gemacht hatte, in der Bibliothek des Hauses der Familie Cippico, eines alten dalmatischen Adelsgeschlechts, entdeckt worden. Aber laut Aussagen seiner Zeitgenossen zweifelte Statilio selbst an der Authentizität des Textes. Er war voller Fehler, Merkwürdigkeiten, ungewöhnlicher und sonderbarer Ausdrücke, die Statilio eine Fälschung wittern ließen. Und wie er dachten auch viele andere in den Fluren der Universität von Padua.
Drohungen und Einschüchterungen
Nun regen sich die einflussreichen Förderer der Edition: der Botschafter der Republik Venedig beim Papst, Pietro Bassadonna, der aus Traù stammende Historiker Giovanni Lucio und sein dalmatischer Landsmann Stefano Gradi, Vizekustode der Vatikanischen Bibliothek, die den Herausgeber und sogar den Drucker bedrohen und verlangen, die Zweifler zum Schweigen zu bringen, die Arbeiten zu Ende zu führen und den Text nicht vor dem Druck zu zeigen. Strohmänner werden bezahlt, die auf die Fragen der skeptischen Kritiker |814| antworten; man setzt das unwahre Gerücht in Umlauf, der Text sei in Rom von einer Kommission Gelehrter untersucht und anerkannt worden. Tatsächlich hatte aber nur ein in Padua lebender, gelehrter dänischer Arzt ein positives, allerdings blindes Urteil abgegeben, allein auf Grundlage dessen, was ihm berichtet worden war und ohne den Text je gesehen zu haben. Eigenartig ist, dies nur am Rande, dass eben jener Arzt, Johann Rhode, ein Paracelsianer aus demselben Kreis war wie Pierre Potier, Pietro Castelli und Marc Aurelio Severino, denen wir schon im mysteriösen Fall von Bouchard begegnet sind. Und darüber hinaus stand er in Kontakt mit Cassiano dal Pozzo. In dubiosen Geschichten scheint man immer auf dieselben Menschen zu treffen.
Schließlich erscheint das Buch. Sofort breiten sich in ganz Europa Polemiken aus. In Paris bezeichnen der Franzose Valois und der Deutsche Wagenseil das Gastmahl, gestützt auf eine Fülle von Argumenten, als grobe Fälschung. Um den Anschuldigungen zu entgegnen, beschäftigen die Förderer des Traguriensis sogar Ghostwriter, die eine Antwort in Statilios Namen veröffentlichen, der aber gar nicht an die Echtheit glaubt. Die Flammen der Polemik schlagen hoch.
Zugunsten der Authentizität taucht jedoch ein Schlüsseldatum auf, das in der Handschrift selbst notiert ist: 1423. Just in diesem Jahr verkündete Poggio Bracciolini, der große Jäger verlorener literarischer Werke, seinem Freund Niccolò Niccoli an, dass er in den Besitzt eines Fragments von Petronius gekommen sei: Vielleicht war es das von Traù, das dann auf rätselhaften Wegen in Dalmatien landen sollte.
Aber statt das Problem zu lösen wirft diese Hypothese neue Fragen auf. Warum spricht Poggio, nachdem er in einem Brief angekündigt hat, einen wertvollen Petronius in den Händen zu halten, mit niemanden mehr darüber? Und was wurde aus seinem geheimnisvollen Petronius? Es ist nicht einmal sicher, ob Poggio zwei oder nur ein Petronius-Manuskript in Händen hatte und ob sie aus England oder Deutschland kamen. Poggio gelangte durch den Handel mit Manuskripten zu Geld und Ansehen; es ist absolut unwahrscheinlich, dass er ein so vorzügliches Stück wie das Gastmahl des Trimalchio mir nichts, dir nichts aus den Augen verlor. Nichtsdestoweniger gibt es in seinen Schriften keine erwähnenswerten Hinweise auf Petronius.
|815| Unerklärliches Schweigen
Wie man sieht, ist die ganze Geschichte gespickt mit zwielichtigem Schweigen und missverständlichen Unterlassungen, die jedoch mit einer einzigen logischen Erklärung beseitigt werden könnten: Das Gastmahl des Trimalchio ist eine Fälschung. Die Polemiken dauerten nach der Veröffentlichung in Padua jahrelang an, dann aber verständigte sich ein Großteil der Philologen darauf, das Manuskript von Traù als authentisch anzusehen. Andererseits hatte man um dieses Ergebnisses willen von Beginn an auf Schikanen und Drohungen gesetzt. Das Geheimnis um die achtzehn Jahre, die der Kodex Traguriensis in einer Schublade verschlafen hatte, wurde schließlich nicht geklärt; aber die Zeit brachte alle Meinungsverschiedenheiten zum Schweigen.
Im Jahr 2005 gab es eine Überraschung. Der
Weitere Kostenlose Bücher