Das Mysterium der Zeit
kroatische Gelehrte Bratislav Lučin entdeckte auf anderen Seiten des Kodex, der das Gastmahl enthielt, die Handschrift einer berühmten Persönlichkeit: des Poeten Marko Marulić Splićanin (B. Lučin,
Marul, Katul i trogirski kodeks Petronija
, in: »Colloquia Maruliana«, XVI (2007), S. 5–48). Marulić, der sich als der »kroatische Dante« bezeichnete, ist eine Art geistiger und literarischer Vater Dalmatiens. 1450 in Split geboren und 1524 gestorben, war er der Autor der
Judita
, des ersten epischen Gedichts auf Kroatisch. Marulić hatte in den Kodex Traguriensis Claudians Dichtung
Phoenix
kopiert, darüber hinaus hatte er im gesamten Manuskript, außer im Gastmahl, Anmerkungen und Korrekturen gemacht. Er war also vermutlich der Besitzer des Kodexes gewesen, bevor dieser Eigentum der Familie Cippico geworden war.
Marulić besaß auch einiges Talent als Fälscher. Wie der große deutsche Historiker Theodor Mommsen bereits im 19. Jahrhundert herausfand, hatte der »kroatische Dante« in seine Sammlung antiker Inschriften,
In epigrammata priscorum commentarius
, die von ihm aufs Schönste erfundenen Texte einiger lateinischer Gedenktafeln eingefügt (B. Lučin, CIL
190*: A Proposal for Marulić
, in: »Colloquia Maruliana«, 7 (1998), S. 47–56).
Marulić war ein ausgezeichneter Kenner der lateinischen Poesie und konnte alle großen Autoren der Antike imitieren. Der Traguriensis war sicher lange in seinen Händen, schaut man sich die Notizen und Randbemerkungen an, mit denen er den Kodex von vorne bis hinten angereichert hatte. Allein im Gastmahl des Trimalchio hatte Marulić, obwohl es das Juwel des ganzen Kodexes war, nicht eine Silbe notiert. Dies legt die Vermutung nahe, dass er von der Unechtheit des Gastmahls gewusst und es daher nicht mit Kommentaren oder Korrekturen gewürdigt hatte.
|816| Vor allem aber sprach Marulić mit niemandem über das wertvolle Manuskript in seinem Besitz. Petronius taucht unter den klassischen Autoren in seiner Bibliothek nicht auf (vgl. G.J. Gutsche,
Classical Antiquity in Marulić’s Judita
, in: »The Slavic and East European Journal«, 19/3 (1975), S. 310–321, insbesondere S. 314). Das verwundert vor allem, wenn man bedenkt, dass Marulić gezeigt hatte, dass er »potentiell alle epischen Dichter der römischen Antike kannte (Lukrez, Vergil, Lucan, Manilius, Statius, Silius Italicus); die Satyriker Juvenal und Persius, dann Catull, letztlich die Elegiker Properz und Tibull sowie Horaz. Er kannte Ovid bis ins kleinste Detail, einschließlich der
Amores
und der
Ars Amatoria
. Offensichtlich hatte er sich von Martial die Regeln des epigrammatischen Genres angeeignet« (D. Novaković,
Two Recently Discovered Manuscripts of Marko Marulić in Great Britain
, in: »Colloquia Maruliana«, 6 (1997)). Vom Petronius in seinem Besitz scheint der »kroatische Dante« jedoch nichts gewusst zu haben. Und doch hatte sein Verleger Bernardo Vitali 1499 den bereits bekannten Teil des
Satyricons
gedruckt. Ist es möglich, dass Vitali und Marulić nie daran gedacht hatten, auch das Gastmahl in Druck zu geben? Für das seltsame Schweigen des »kroatischen Dante« gibt es nur eine Erklärung: Entweder hatte er gewusst, dass der Petronius eine Fälschung war, oder das Gastmahl wurde dem Kodex erst in einer Zeit nach Marulić hinzugefügt.
Cippico, Begna und Ciriaco
In einigen Randbemerkungen erkennt man im Kodex Traguriensis die Handschrift von Giorgio Begna, dem mit der Familie Cippico verbundenen Kopisten von dalmatischen Originalmanuskripten. Durch einen Vergleich der biographischen Daten gelangte man zu der Annahme, dass der Kodex von Traù zunächst Begna, dann den Cippico, dann Marulić und schließlich erneut den Cippico gehört hatte, in deren Bibliothek er letztendlich von Marino Statilio zutage gefördert wurde (B. Lučin,
Petronius in Dalmatia: the Codex Traguriensis and the Croatian Humanist Marko Marulić
. Beitrag zum Kongress »Humanism on the Eastern Adriatic Coast«, Venedig, 8. April 2010).
Aber auch Begna, der den Kodex Traguriensis in den Händen hatte, hätte den Wert des Gastmahls nicht ignorieren können, trotzdem sprach er unerklärlicherweise mit niemandem darüber, noch kopierte er ihn. Begna und Cippico waren mit dem berühmten herumreisenden Gelehrten Ciriaco di Ancona (1391–1455) befreundet, dem man einige Fälschungen von Inschriften |817| zuschreibt, die er auf seinen Reisen gefunden haben wollte (vgl. R. Weiss,
La scoperta rinascimentale dell’età
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