Das Mysterium der Zeit
Kurz gesagt, sie behauptet, dass die subatomare Welt im Kern nicht festgelegt sei und dass die Phänomene schon durch die reine Beobachtung gestört werden. Elementarteilchen wie das Elektron oder das Photon befänden sich in einem andauernd schwebenden Zustand zwischen Körper und Welle, und allein die Tatsache, beobachtet zu werden, würde sie »stören« und dazu führen, dass sie entweder den einen oder den anderen Zustand annähmen. Dieses Phänomen, von der Störung herbeigeführt, die allein durch die Beobachtung verursacht wird, entsteht auch, wenn das beobachtende »Auge« nicht menschlich, sondern mechanisch ist. Sprich: Die subatomare Welt, oder besser das innerste Wesen der Realität, die uns umgibt,
kann nicht beobachtet werden
.
Wenn wir es tun, entwirft sie ausschließlich zu unserem Nutzen und Gebrauch ein durch und durch falsches Mini-Spektaktel, bei dem jedes Ding an seinem Platz zu sein scheint. Sobald wir es aber in Frieden lassen, legt es die irreführende Erscheinung ab und kehrt zu seinem fluktuierenden Status zwischen körperlicher und wellenförmiger Natur zurück.
Mehr noch. Das Prinzip der Lokalität, an dem Einstein so hing, welches besagt, dass alle räumlich voneinander entfernten Objekte keine direkte Wirkung aufeinander haben können, wurde vor etwa 30 Jahren durch das berühmte Experiment von Alain Aspect widerlegt, der unter anderem Wech selwirkungen bewies, die
schneller als in Lichtgeschwindigkeit
zwischen ge trennten physischen Entitäten ablaufen. Zwei durch den Zerfall eines Kalzium-Atoms erzeugte Photonen wurden auf zwei verschiedenen Strecken freigesetzt. Das erste Photon wurde auf eine Strecke aus lichtbrechenden Kristallen geschickt, die es umleiteten, das zweite Photon wurde ohne Hindernisse ausgesendet. Die Abweichungen des ersten Photons (von den Forschern |827| durch die lichtbrechenden Kristalle herbeigeführt) ließen sich augenblicklich auch bei dem anderen Photon beobachten!
Dieses Phänomen, das unerklärlich erscheint, da es in vollkommenem Widerspruch zum Prinzip der Lokalität steht, ist für Quantenphysiker ganz und gar natürlich, da sie generell von der Existenz eines wechselwirksamen Systems ausgehen, in dem die räumliche Distanz keinen Einfluss hat. Für die Quantenphysik stellen getrennte Teilchen nicht notwendigerweise unterschiedliche Einheiten dar. Im Fall der Photonen waren diese zwar getrennt, aber miteinander korreliert, da sie aus demselben Kalzium-Atom stammten. Das Prinzip zeigt, dass eine unmittelbare oder zumindest eine die Lichtgeschwindigkeit übertreffende Wirkung und Verbindung durchaus vorstellbar sind.
Wie paradox diese Schlussfolgerungen der Quantenmechanik auch erscheinen mögen, sie repräsentieren doch den gemeinsamen Nenner der gesamten modernen Physik.
Einstein konnte sich mit den unumstößlichen Beweisen der Quantenphysik so wenig anfreunden, dass er die Theorie der versteckten Variablen aufstellte. Diese besagt mehr oder weniger, dass es versteckte, besser gesagt, noch nicht entdeckte Variablen geben müsse, die erlauben, die Ungültigkeit der Quantenphysik zu beweisen, auch wenn es im Moment unmöglich erscheint, ihre Prinzipien zu demontieren. Einstein bemerkte nicht, dass auch er damit Urban VIII. und Bellarmino Recht gab und die entgegengesetzte Richtung zu seiner ursprünglichen deterministischen Absicht einschlug.
Wir scheuen nicht davor zurück, uns den paradoxen Schlussfolgerungen Duhems anzuschließen, der durch unsere Figur Hardouin spricht, wenn er behauptet, dass die Logik auf der Seite Bellarminos und Urbans VIII. steht und nicht auf Seiten Galileos, da die ersten beiden exakt den Wert der experimentellen Methode begriffen hatten, während letzterer sich getäuscht hatte.
Atto Melani (Pistoia 1626–Paris 1714) und die Kastraten
Heutige Untersuchungen und Forschungen zu den Kastraten leiden unter einem einseitigen Ansatz. Denn die produktivsten Forscher auf diesem Gebiet interessieren sich für das Phänomen nur im Rahmen der Geschichte der männlichen Homoerotik. Diese Perspektive kehrt die schmerzhafte Realität der Kastraten um, die vor allem Opfer von Gewalt mit pädophilem Hintergrund waren, und macht aus ihnen Protagonisten der homosexuellen Szene |828| ihrer Zeit. Die »fröhliche« Version des Kastratenschicksals ignoriert den tragischen Aspekt der Nötigung, der die Kastraten mit jenen in Verbindung bringt, die sich – wie meistens auch ihre Mäzene – im Gegensatz zu ihnen frei für die Ausübung
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