Das Mysterium der Zeit
der Homoerotik und Pädophilie entschieden hatten (vgl. Luca Ombrosi,
Vita dei Medici sodomiti
, Rom 1965). Diese beriefen sich auf eine angeblich klassische Tradition, die selbst einige Experten für homosexuelle Literatur als »unwahrscheinlich« bezeichnen (vgl. Luca Scarlini,
Lustrini
per il regno dei cieli
, Torino 2008).
Kastraten wollten nicht homosexuell sein. Die Tatsache, dass sie zu diesem Zweck verstümmelt wurden und sich in den Betten mächtiger Pädophiler wiederfanden, spiegelt die Gewalt wider, deren Opfer sie waren, nicht ihre sexuelle Vorliebe. Sie wählten diesen Weg nicht freiwillig. Im Alter zwischen sechs und neun Jahren wurden sie brutal an den Genitalien verstümmelt, um aus ihnen Wesen zwischen Mann und Frau zu machen. Zum Gebrauch für unterschiedlichste Vergnügen, bei denen der musikalische nicht vom sexuellen getrennt wurde.
So geschah es auch Atto Melani und seinen vielen Brüdern. Wir müssen hier nicht wiederholen, was schon in Diskurs II und der ihm folgenden Notiz und Betrachtung erzählt wurde, da sich jedes berichtete Detail auf das verbliebene Archivmaterial, vor allem auf die Briefe Attos stützt – einschließlich des merkwürdigen Todes seines Vaters durch einen Sturz aus dem Fenster. Eine Episode, hinter der man ohne zu zögern das Einschreiten der kastrierten Söhne vermutet, von deren sieben er nur einen für den Erhalt der Familie aufgespart hatte. Hätte Atto doch eine Mutter gehabt wie der Komponist Gioachino Rossini: Als der vom Ehemann gerufene Bader eintraf, um den kleinen Gioachino zu kastrieren, bewaffnete sie sich mit einem Küchenmesser, fuchtelte damit wild herum, jagte die »Herren Männer« mit spitzen Schreien in die Flucht und trieb ihnen ein für alle Mal die Absicht aus, ihren Sohn zu verstümmeln.
Atto Melani selbst lebte seinen Zustand als Kastrat mit großem Zorn. Er beklagte sich darüber in seinen Briefen; nach seinem 18. Lebensjahr konnte er sich mit der Weigerung, fortan Frauenrollen zu singen, bei seinen Herren durchsetzen. Es gibt einen berühmten Streit zwischen ihm und dem Librettisten Francesco Buti, der sich etwa zwanzig Jahre nach den in
Mysterium
erzählten Ereignissen abspielte. Buti wollte Atto beleidigen, indem er ihm vor anderen Musikern mitteilte, dass er ihm in der nächsten Oper die Rolle einer Göttin zugedacht habe. Atto bekam daraufhin einen heftigen Wutanfall, beschimpfte Buti grob und weigerte sich sogar, bei der Oper mitzuwirken, ohne |829| zu bedenken, welche ernsten Konsequenzen eine solche Rebellion für seine Beziehungen zum König haben würde. Und dies ist nur ein Beispiel.
Von dem in Venedig zirkulierenden Sonett über die Leidenschaft, die Barbara Strozzi für einen Kastraten hegte, haben wir bereits berichtet. Schon zu der Zeit war Attos Liebe zu Frauen bekannt, die auch Gegenstand der in Diskurs III zitierten pistoiesischen Satire war. Man wusste auch, dass seine nicht seltenen, der Operation geschuldeten »Funktionsstörungen« ihn in tiefste Verzweiflung stürzten, so sehr, dass manch eine ihn sogar »den Kopf gegen die Wand« hat schlagen sehen.
1653 verliebte sich Atto in die Frau, damals noch ein Mädchen, die für immer in seinem Herzen bleiben sollte: Maria Mancini, die Nichte des Kardinals Mazarin und erste Liebe Ludwigs XIV. Maria kam mit 15 Jahren aus Rom nach Paris und blieb nach der erzwungenen Trennung vom jungen König, der die spanische Infantin heiraten musste, um dem Krieg ein Ende zu setzen, über 40 Jahre heimlich mit ihrer alten Liebe in Kontakt. Aus diesen Briefen in Geheimschrift, die durch Atto übermittelt wurden und die wir in Paris im Archiv des Außenministeriums entdeckt haben, machten wir das Leitmotiv unseres Romans
Secretum
(Berlin 2005). Als Maria 1661 nach Rom geschickt wurde, um den Prinzen Colonna zu heiraten, ließ der König sie von Atto verfolgen. Offiziell hatte er ihn wegen des Verdachts auf Mitwisserschaft im Fall des Polizeimeisters Fouquet, der der Unterschlagung beschuldigt wurde, nach Rom ins Exil geschickt. Als Maria 1672 aus der stürmischen Ehe mit Colonna floh, erhielt Atto – was für ein Zufall – die Vergebung des Königs und wurde wieder in Paris aufgenommen.
Sobald er konnte, hörte Atto mit dem Singen auf und versuchte, als Spion zu überleben. Ein Metier, das ihm zu liegen schien, da er einer der gefragtesten und mächtigsten Diplomaten ganz Europas wurde, Papstwahlen zu beeinflussen und internationale Spannungen zu schlichten vermochte. Über seine
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