Das Mysterium der Zeit
der positivistischen Wissenschaft des späten 17. Jahrhunderts führten einige schon bei Galilei vorhandene Missverständnisse zu extrem negativen Konsequenzen: dem blinden Vertrauen in die wissenschaftliche Gewissheit experimenteller Messungen und den Auswüchsen eines naiven wissenschaftlichen Realismus, der sich alsbald in ein starrsinniges Beharren auf der absoluten Unbezweifelbarkeit aller Erfahrungsdaten wandeln sollte.
Denn das Experiment ist niemals einfache Tatsachenfeststellung, sondern ein komplexes Urteil, das der Wissenschaftler auf der Grundlage von abstrakten und symbolischen Erkenntnissen formuliert. Deren Übereinstimmung mit den Fakten ist nur durch Theorien garantiert, die die Aufgabe haben, die Vielzahl der Erfahrungswerte auf einer abstrakten, rein instrumentellen Ebene zu vereinen.
Hier steckt das Missverständnis, dem Galileo erlegen ist: Die allein aus empirischen Daten erarbeiteten Hypothesen mit unumstößlichen wissenschaftlichen Wahrheiten zu verwechseln.
|825| Wie viel an der kategorischen Form von Galileos Behauptungen dem Blendwerk des von Diodati verheißenen Ruhmes geschuldet ist, den Galileo bis dahin nur gestreift, aber niemals erreicht hatte, kann nur vermutet werden.
Es ist eine Tatsache, dass sich Galileos Werke unverkauft in den Lagern der Drucker stapelten und erst nach der Veröffentlichung der Abschwörung weggingen wie warme Semmeln.
Wie auch immer, in ihren Anfängen war die moderne Wissenschaft – und mit ihr Galileo – geblendet von der Bedeutung der experimentellen Methode und verwandelte sie für jede wissenschaftliche Erkenntnis in einen Urteilsspruch ohne Berufungsmöglichkeit. Aus dieser Haltung erwuchsen zahlreiche, auch für die Wissenschaft gefährliche Konsequenzen. Die schädlichste unter ihnen war die schon von Galileo selbst angewandte Praxis des »experimentellen Widerspruchs«, einem analogen Vorgehen wie die Beweisführung ad absurdum in der Mathematik, bei der das Gegenteil einer Hypothese als wahr gilt, wenn diese sich auf experimentellem Weg als falsch herausgestellt hat. Aus Galileos Sicht hätte dies eine sichere und endgültige Entscheidung zwischen diversen rivalisierenden Theorien ermöglicht. Galileo hatte nicht verstanden, dass für dieses Ziel kein wie immer geartetes Experiment ausreicht. Wie der Buchhändler Hardouin im Diskurs LXXIII und im dazugehörigen Dialog über den Unterschied zwischen Wissen und Beherrschen erklärt, kann man nie ausschließen, dass in der Zukunft eine neue Theorie aufgestellt wird, die sich mit ebendiesen experimentellen Daten vereinbaren lässt.
Somit hat eine wissenschaftliche Theorie immer einen relativen Wert. Als Gegenprobe genügen ein paar von Duhem angebrachte Beispiele. Zunächst einmal kann sich eine auf einem bestimmten Forschungsgebiet funktionierende Theorie als ungültig herausstellen, wenn das Gebiet erweitert wird. Beispiel: Poissons Theorie funktioniert, solange man sie auf homogene Leitkörper anwendet, aber sie gilt nicht mehr, wenn man sie sowohl auf homogene als auch auf heterogene Körper anwendet.
Darüber hinaus hängt der Wert einer Theorie vom Präzisionsgrad der Messinstrumente ab. Weniger genaue Instrumente können eine Theorie verifizieren, die sich dann mit präziseren Instrumenten als falsch herausstellt, da ein perfekteres Gerät die Abweichungen erfassen kann, die den vorigen Instrumenten entgangen waren. Beispiel: Die klassische Theorie vom Gas (von Gay-Lussac) hatte so lange Bestand, wie die Instrumente der Physiker denselben Präzisionsgrad boten wie die von Gay-Lussac. Als Regnault die Wissenschaft durch viel feinere Verfahren bereicherte, wurde die Theorie ungültig.
|826| Angesichts solcher Beobachtungen begreift man in vollem Ausmaß, wie weise Papst Barberini und Kardinal Bellarmino waren, als sie Galileo empfahlen, sich auf die Beherrschung der wahrnehmbaren Daten zu begrenzen, aber nicht zu glauben, dass er damit das eigentliche Wesen der Dinge erfassen könne.
Auch die Quantenmechanik gibt Bellarmino und Urban VIII. Recht. Die vor gut achtzig Jahren entstandene physikalische Theorie erlebt erst heute aufgrund der Unzulänglichkeit der klassischen Mechanik bei der Erklärung physikalischer Phänomene einen regelrechten Popularitätsboom bei einem breiteren Publikum. Die Quantenmechanik (der ursprünglichen Kopenhagener Interpretation von 1927) verzichtet auf den absoluten Determinismus der klassischen Physik und ersetzt ihn durch das Prinzip der Indetermination.
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