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Das Mysterium der Zeit

Titel: Das Mysterium der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi , Sorti
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Vergangenheit als Musiker schrieb er kein Wort mehr, keine Erinnerung, keine Andeutung, nichts.
    Die emotionale Geschichte Atto Melanis, der seinen letzten, wenige Tage vor seinem Tod mit achtundachtzig Jahren in jugendlich frischem Ton geschriebenen Brief Maria widmete (»mir scheint, ich träume« schreibt er in Gedanken an sie), ist der vieler anderer Kastraten nicht unähnlich, wie wir schon in den oben erwähnten Diskursen erzählt haben und im Folgenden ausführlicher zeigen werden. Dramatische Geschichten von verfolgten Kastraten, zur Flucht gezwungen, ermordet oder an den Widerständen zugrunde gegangen, auf die sie trafen, weil sie eine Frau liebten. Denn seit dem |830| Dekret Sixtus V. von 1686 war es Kastraten verboten, mit einer Frau zusammenzuleben. Aber nicht mit einem Mann. Der Kastrat Salimbeni führte seine Schülerin und Lebensgefährtin mit nach Dresden, indem er sie als Kastrat ausgab. Neben anderen Päpsten antwortete auch Innozenz XI. einem Kastraten, welcher ihn um Dispens für die Hochzeit bat: »Dann soll man eben besser kastrieren!« Die Liebesgeschichte zwischen dem Kastraten Siface und einer Verwandten des Grafen Marsili (vom Letzteren sprechen wir in unserem Roman
Veritas
, Hamburg 2007) endete mit der Ermordung Sifaces auf Anordnung Marsilis.
    Noch im 19. Jahrhundert war das allgemeine Bewusstsein für die Wut der Kastraten wegen der erlittenen, beispiellosen Gewalt lebendig. In
Sarrasine
von Honoré de Balzac verliebt sich die Hauptfigur, der Bildhauer Sarrasine, in die wunderschöne Sängerin Zambinella, um dann zu entdecken, dass es sich um einen Kastraten handelt. Ein Fürst wird ihm den Schwindel verraten: »Ich selbst, mein Herr, habe Zambinella seine Stimme verschafft. Ich habe dem Kerl alles bezahlt, sogar seinen Gesangslehrer. Nun, er ist für den Dienst, den ich ihm erwiesen habe, so undankbar, daß er seinen Fuß nicht ein einziges Mal über meine Schwelle gesetzt hat.«

    Doch von diesen Dramen findet man leider keine Spur in zeitgenössischen Studien über Kastraten. Die Abhandlung des Musikologen Roger Freitas,
Portrait of a castrato
, London-New York 2009 ist eine sehr ausführliche Biographie Atto Melanis (auch wenn ihm bei seiner Forschungsarbeit einige Bände mit der Korrespondenz Attos entgangen sind). Es ist jedoch enttäuschend, wenn man lesen muss, dass Freitas Attos Klagen über seinen »unglücklichen Zustand« als Kastrat abschätzig als reine Heuchelei, als theatralisches Selbstmitleid klassifiziert. Freitas macht sich nicht einmal die Mühe nachzuweisen, auf welche Briefe von Atto er sich bezieht. Nicht mit einem Wort erwähnt er Attos Neigung zu Frauen. Maria Mancini wird komplett verschwiegen. Im Gegenteil werden ganze Kapitel auf die an Hypothesen und Details überreiche Analyse von Attos Jugendbriefen verwendet, in denen sich Spuren von angeblichen homoerotischen, mehr oder weniger zufälligen Beziehungen zu einigen seiner »Beschützer« verbergen könnten. Das Element der Nötigung hinter diesen mutmaßlichen Beziehungen wird von der mühevollen Rekonstruktion Freitas völlig außer Acht gelassen, dessen Hauptinteresse im Übrigen schon der Titel des Artikels bekundet:
The eroticism of Emasculation:
Confronting the Baroque Body of the Castrato
, in: »Journal of musicology«, Vol. 20, Nr. 2 (Frühling 2003), S. 196–249.
    |831| Dasselbe biographische Schicksal widerfährt Marcantonio Pasqualini, genannt Malagigi, Atto Melanis Lehrer: Man muss bis zur zeitgenössischen Korrespondenz zurückgehen, um zu entdecken, dass Pasqualini nicht der Geliebte des Kardinals Antonio Barberini war, wie in heute gängigen Studien dargestellt. Der junge, stattliche Kardinal bediente sich ganz im Gegenteil der Faszination, die der Kastrat auf adelige Mädchen ausübte, um die väterlichen Kontrollen zu umgehen und die Töchter in sein eigenes Bett zu bekommen. Denn welcher Vater fürchtete schon um seine Tochter, wenn ein Kastrat ihr den Hof machte?

    Im durchweg unwahren Panorama der Studien auf diesem Gebiet, die wie im Fall Freitas mit Unterstützung amerikanischer Universitäten veröffentlicht wurden, sticht die unbestreitbare Objektivität einer Abhandlung hervor, die aus der Feder eines Nicht-Akademikers, wohl aber eines Theaterhistorikers und Regisseurs. Das Buch des Deutschen Hubert Ortkemper: Sein
Engel wider Willen: Die Welt der Kastraten
, Berlin 1993, verkündet schon im Titel das Ergebnis der vom Autor minutiös betriebenen Nachforschungen. Das 22. Kapitel

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