Das Mysterium der Zeit
überprüfen lässt, die sich auf Archivdokumente stützt und ein unerwartetes Licht auf die Geschichte des toskanischen Gelehrten wirft.
Hingegen müssen einige Zusätze zum erkenntnistheoretischen Aspekt gemacht werden.
Die Erkenntnistheorie ist die Philosophie der Wissenschaft. Sie interpretiert die verschiedenen Methoden wissenschaftlicher Untersuchungen der uns umgebenden Realität und versucht festzustellen, welche Methoden Gültigkeit besitzen und welche nicht. Wie in allen Wissensbereichen des Menschen tragen die Experten auch auf diesem Feld seit Jahrhunderten erbitterte Kämpfe aus.
Die Ereignisse um Galileo wurden also vorwiegend, wie oben erwähnt, vom Kampf zwischen drei verschiedenen Erkenntnistheorien ausgelöst. Bevor |823| es an die Auswertung neuer Versuchsdaten ging, musste man sich also zunächst über diese drei Theorien verständigen:
den experimentellen Realismus Galileos (der auch heute noch in der offiziellen Wissenschaft führend ist),
den Instrumentalismus Bellarminos und Papst Urbans VIII. sowie einer breiten Schar von Gelehrten, die diesen Standpunkt seit der Antike vertraten,
den dogmatischen Realismus der Aristoteliker (der auch heute noch in den drei großen monotheistischen Weltreligionen tonangebend ist).
Die Reihenfolge, in der wir die drei obengenannten erkenntnistheoretischen Strömungen aufgelistet haben, ist nicht zufällig. Die erste und die letzte repräsentieren die beiden unversöhnlichen Extreme, die – leider – in der heutigen Realität noch immer vorherrschen. Die zweite, der von Martin Luther weggefegte Instrumentalismus, fand (abgesehen vom Glauben) ein Echo im
Pensiero Debole
und erhebt sich heute dank der großen Verbreitung quantenphysikalischer Entdeckungen zu neuem Leben (siehe weiter unten).
Für eine detaillierte Erklärung der drei erkenntnistheoretischen Typen verweisen wir auf die Diskurse LXXIII bis LXXVII, einschließlich der mit ihnen zusammenhängenden Betrachtungen, Dialoge und Notizen. In diesen Kapiteln hat die Erzählung tatsächlich nichts Romanhaftes, außer der stilistischen Form, mit der wir versucht haben, all unseren Lesern eine Materie verdaulicher zu machen, deren korrektes Verständnis ebenso komplex wie notwendig ist, um das Leben – auch das alltägliche Leben – im richtigen Licht zu sehen und zu meistern.
Grundlegend für eine Vertiefung der Geschichte des wissenschaftlichen Instrumentalismus ist Pierre Duhems (1861–1916) Aufsatz:
Rettung der Phänomene
(
Sozèin ta phainòmena. Essai sur la notion de théorie physique de Platonà
Galilée
, Paris 1908).
Die Werke Duhems fanden seinerzeit viele Kritiker. Er war Dozent für Physik an der Universität von Lille und im akademischen Umfeld Opfer einer Hetzjagd, die ihm für immer die Türen zur Sorbonne verschloss. Trotzdem wurde die historische und geschichtswissenschaftliche Glaubwürdigkeit von
Rettung der Phänomene
niemals in Frage gestellt.
|824| Duhems wesentliche Aussagen sind:
A – Die Fortschritte der Wissenschaft vollziehen sich wesentlich innerhalb einer geschichtlichen Entwicklung.
B – Deswegen kann keine Formulierung einer wissenschaftlichen Theorie von den geschichtlichen Zusammenhängen absehen.
Dies sind die beiden untrennbaren Pole, zwischen denen sich die Wissenschaft fortbewegt. Die Frage nach der Vormachtstellung der einen oder der anderen ist sinnlos. Die Bildung jeder physikalischen Theorie, meint Duhem (
La théorie physique: son objet, sa structure
, Paris 1914), ging von den ersten Entwürfen an immer durch aufeinander aufbauende, stufenweise Nachbesserung vonstatten, und jedes Mal wurde die freie Initiative des Physikers von den verschiedensten Umständen, von menschlichen Meinungen nicht weniger als vom Gebot der Fakten angeraten, unterstützt, geleitet, manchmal gebieterisch erzwungen. Eine physikalische Theorie ist mitnichten nicht das Produkt einer plötzlichen Schöpfung aus dem Nichts, sondern das langsame und fortschreitende Ergebnis einer Entwicklung.
Die vielfachen historischen Rekonstruktionen Duhems kreisen im Wesentlichen um das bedeutendste Ereignis der modernen Wissenschaft, der sogenannten »wissenschaftlichen Revolution«, die in Galileo im 17. Jahrhundert den wahren Initiator der wissenschaftlichen Methode findet. Ohne die historische Bedeutung der Leistung des toskanischen Wissenschaftlers schmälern zu wollen, muss diese jedoch in einen korrekteren historischen und erkenntnistheoretischen Rahmen eingeordnet werden.
In
Weitere Kostenlose Bücher