Das Mysterium der Zeit
jeden Fall erbarmungslos zu bestreiten. Dein naiver Vorschlag, sich selbst loszukaufen, der sich als verheerend hätte erweisen können, war gutmütig aufgenommen worden. Guyetus harmlose Bemerkung über die Gier der Korsaren dagegen hatte eine bissige Diskussion entfacht. Just in diesem Moment kündigten unsere Wächter den Besuch des Mannes an, der unser Schicksal nunmehr in der Hand hatte: der Rais, Herr über das Korsarenschiff und der gesamten Beute, die es machte. Sofort suchte ich dein blasses Gesicht, dessen Züge vor Angst ob unserer verzweifelten Lage verzerrt waren. Doch dein Blick war wachsam und suchte den meinen. Du zogst sogar am Ärmel meiner Jacke, um meine Aufmerksamkeit auf die im Wind flatternde Fahne des feindlichen Schiffes zu lenken, die wir nun in wenigen Metern Entfernung direkt vor Augen hatten, da die beiden Schiffe durch die hölzernen Stege verbunden waren.
Unter den drei Halbmonden, die den oberen Teil des Piratenbanners füllten, prangte eine in großen Buchstaben aus Brokat aufgenähte, gut lesbare Inschrift:
DIE CHRISTLICHE RELIGION IST FALSCH
Ich hob den Kopf, um den blasphemischen Satz zu lesen, und die anderen taten es mir sofort nach. Kaum hatte Malagigi die Inschrift entziffert, konnte er eine Regung des Entsetzens nicht verbergen:
»Oh nein, das ist doch nicht möglich …«
Naudé und Guyetus fragten ihn besorgt, welche schlechte Nachricht er dem Banner der Korsaren entnommen habe. Unsere beiden Wächter hatten die Aufregung, die in unserem Grüppchen entstanden war, inzwischen bemerkt, und tauschten ein zufriedenes Lächeln über die Panik aus, in die uns ihre Fahne versetzte.
Endlich fasste Malagigi all seine Angst in einem Namen zusammen, den er wie einen schweren Stein zwischen uns fallen ließ:
»Ali Rais.«
|109| DISKURS XV
Darin man die Bekanntschaft mit Ali Rais und seiner rauen Schale macht. Auf die Probe gestellt, erweist sich Schoppe als tollkühn, Malagigi als raffiniert und Barbello als Unglückswurm.
Der Name war allen mehr oder weniger bekannt, vor allem aber der grässliche Ruf eines Christenmeuchlers, der diesen Namen begleitete.
Ich hatte keine Zeit mehr, mich umzuwenden, schon kündigte sich der Herr über unsere Schicksale an, und seine grobe Stimme drang schmerzhaft an unsere Trommelfelle:
»Seid gegrüßt, verfluchte Nazarener.«
Keiner aus unserem Grüppchen hatte das Herz, den beleidigenden Gruß zu erwidern, der auf Italienisch an uns gerichtet wurde. Wir blieben reglos stehen und warteten auf den nächsten Zug. Ringsumher inspizierten kleine Gruppen von Barbaresken den oberen Teil des Schiffs, lustig ging es auf und ab vom Kielraum bis zur Kombüse, wobei sämtliche nützlichen Dinge fortgeschleppt wurden: Schiffszwieback, Wein, gepökeltes Fleisch, Kisten mit Käse, Takelage, Talg, Pech, Zündschnüren, Schießpulver, Kugeln und weitere, geringfügige Vorräte für den Krieg, den Magen und das Krankenlager, darunter Decken, Kleidung und Brennholzvorräte.
Stumm fragten du und ich einander mit Blicken, ob sie unser kleines Versteck mit den Dokumenten und Kreditbriefen entdecken würden, doch in diesem Moment konnten wir uns gegen die Plünderung ohnehin nicht wehren.
Ali Rais fuhr indessen fort: »Ach, ich vergaß, Ihr seid ja die Ehrenmänner, von denen mir der Kapitän der Franzosen erzählte. Ihr mögt verzeihen, wenn mir gelegentlich ein Wort zu viel entwischt, aber so bin ich – was ich im Herzen habe, kommt auch über meine Lippen.«
Er machte ein paar Schritte auf uns zu. Er war hellhäutig, ziemlich untersetzt und trug die weißen Türkenhosen. In seiner Begleitung waren der kleine Lockenkopf, den ich zuvor schon an seiner Seite gesehen hatte, und sein Statthalter, ein ebenfalls untersetzter, aber stämmiger Korsar mit langem, offenem Haar, dessen fuchsrote Farbe durch weiße Strähnen blasser erschien. Als die drei vor unserer Gruppe ankamen, standen wir alle auf, nicht aus Respekt, sondern aus Furcht. Der Anführer |110| schätzte uns mit Blicken ab, wie er es mit einer Schafherde gemacht hätte. Dann begann er wieder in einem flüssigen Italienisch zu sprechen: »Gestattet, dass ich mich vorstelle. Ich bin Ali Rais, Kommandant des Schiffes, welches das Eure soeben gekapert und unter seine Gewalt genommen hat. Ihr wisst recht genau, was geschehen ist: Das Barbareskenreich Tunis, dem ich und meine Männer ewige Treue geschworen haben, erleidet seit unvordenklichen Zeiten eine Reihe unerhörter Schmähungen durch den König
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