Das Mysterium der Zeit
in Sinope geboren, und ich weiß nicht, ob sie noch lebt. Meine Großeltern väterlicherseits, Mahamet und Aysa, beide tot, waren ebenfalls Türken aus Sinope. Die Eltern meiner Mutter kannte ich nicht, aber auch sie waren Türken aus derselben Stadt. Mein Vater hatte einen Bruder, Asan Rais, der noch lebte, als ich, damals noch ein kleiner Junge, Sinope verließ. Seither bin ich nicht mehr zurückgekehrt. Ich bin in Tunis mit einer Türkin verheiratet, Mina, sechzehn Jahre alt. Wir haben einen Sohn, Mahoma, vier Jahre alt, und eine Tochter, Raxia, ein Jahr alt. Beide leben mit ihrer Mutter in Tunis. Vor zehn Monaten habe ich eine zweite Frau genommen, Aysa, eine Maurin, die Spanisch spricht. Als ich aus Bizerta aufbrach, erwartete sie ein Kind.«
Der Inquisitor fragt nach: Zu welcher Rasse gehört die Familie des Angeklagten? Sind sie Juden? Mauren? Türken? Oder zu einer anderen, jüngst gebildeten Sekte? Ist er ein getaufter Christ?
»Alle in meiner Familie sind Türken und Mauren, die von Türken oder Mauren abstammen, nicht von Juden, nicht von Christen. Und darum bin ich Türke, Sohn von Türken, wie ich schon sagte, kein Christ und kein Abtrünniger. Ein echter Türke, und als solcher habe ich mein ganzes Leben gelebt, gehorsam gegenüber den Geboten Mohammeds. Ich habe fünfmal am Tag das
guadoc
praktiziert, indem ich mir zur Reinigung von meinen Sünden das Gesicht und die Gliedmaßen wusch, und das
Salat
bete ich fünfmal am Tag, wobei ich den Kopf hebe und senke, wie der Ritus es vorschreibt. Ich habe während |155| der dreißig Tage des Ramadan gefastet, ohne etwas zu mir zu nehmen, bevor der erste Stern am Himmel erscheint, und ich habe alle Tage Fleisch gegessen. Und ich glaube, dass ich meine Seele rette, wenn ich in dieser Weise das Gesetz Mohammeds befolge. Dieses Gesetz steht im Widerspruch zur christlichen Lehre, das weiß ich, und die Christen sind Feinde, die man ausrauben und entführen muss. Als Korsar habe ich viele gefangen genommen und verkauft, ich habe gegen sie gekämpft und einige getötet. Auch ich wurde verletzt. Wenn ich mehr von ihnen hätte entführen und ausrauben können, hätte ich das getan. Ich sah und sehe mich immer als Korsar.«
Dann fuhr er fort:
»Bis zu meinem vierzehnten Geburtstag habe ich mit meinen Eltern in Sinope gelebt, dann habe ich ein Schiff bestiegen, das über das Schwarze Meer fuhr. Ich wollte die Kunst des Seefahrens lernen und war neun Jahre lang Matrose. Darauf bin ich nach Tunis gegangen, wo ich Kapitän einer Tartane wurde. Ich habe an den Küsten Spaniens gegen die Christen gekämpft, und nach ungefähr zwölf Jahren wurde mein Schiff von neapolitanischen Galeeren geentert. Ein Jahr lang war ich Gefangener in Neapel, dann wurde ich gegen einen Christen ausgetauscht, der Gefangener in Tunis war. Das hatte ich den Verhandlungen der Mönche eines jener Orden zum Loskauf von christlichen Geiseln aus türkischer Gefangenschaft zu verdanken. Über Palermo, wo ich mich einen Monat lang aufgehalten habe, bin ich nach Tunis zurückgekehrt. Zwei Jahre später wurde ich Janitschar, und als Soldat habe ich den Kampf gegen die Christen auf Galeeren und Galeonen wieder aufgenommen. Mannschaftsführer bin ich nie gewesen. Vor einem Jahr hat der Pascha von Tunis drei Galeonen bewaffnet und mir das Kommando übertragen. Auf diesen drei Schiffen waren gut sechshundert Türken, alles Matrosen und Soldaten. Wir holten die Anker ein und segelten gen Osten. Wir haben viele christliche Schiffe ausgeraubt. Auf der Rückfahrt nach Tunis sind wir selbst gekapert worden.«
Wenn Ali Rais von Geburt Türke ist, hat das Inquisitionsgericht kein Recht, über ihn zu urteilen. Den Gefangenen erwartet die Sklaverei oder das Rudern auf Galeeren, und ein Lösegeld oder ein von den tunesischen Machthabern ausgehandelter Austausch können ihn alsbald befreien.
Wenn er aber als Christ geboren ist, hat er mit seinen stolzen Erklärungen |156| beim ersten Verhör schon alle Brücken hinter sich abgebrochen, es gibt kein Zurück. Es sei denn, er bekehrt sich wieder zum Christentum. Doch das ist, wie die Richter genau wissen, ein äußerst gefährlicher Weg: wenn die Türken Ali-Guicciardo erwischen, wird er seine Kehrtwende auf jeden Fall mit dem Tod bezahlen müssen.
Wahrscheinlich weiß Ali nichts von den Zeugenaussagen, die ihn schwer belasten. Wie immer bei solchen Prozessen werden die Zeugen durch Anonymität und strenge Geheimhaltung des Ermittlungsverfahrens geschützt. Das
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