Das Mysterium der Zeit
Inquisitionsgericht spielt jedoch kein schmutziges Spiel und klagt nicht ohne Beweise an. Wenn es einen Schuldspruch gibt, muss er gut begründet sein, also sind die Inquisitoren entschlossen, allen im Prozess auftauchenden Fragen gründlich nachzugehen.
Eines Tages im Juli wird der Arzt des Heiligen Offiziums eilig ins Gefängnis gerufen. Man hat Ali leblos in seiner Zelle aufgefunden, der Puls ist sehr schwach – ein Kollaps. Durch einen christlichen Dolmetscher hatte er wissen lassen, dass er von nun an alle Speisen der Nazarener ablehnen werde, und seine Entscheidung sei unumstößlich. Der oberste Inquisitor begibt sich ins Gefängnis zu Ali. Dieser verlangt sofort, dass ein Religionsbruder ihm das Essen zubereitet und außerdem für ihn dolmetscht. Wenn man vor Ort keinen finde, solle man auf den Schiffen suchen, sonst werde er so lange die Nahrung verweigern, bis er sterbe.
Was tun? Der Inquisitor schickt nach einem gewissen Zufo, einem ehemaligen Korsaren und Sklaven in den Gefängnissen des Heiligen Offiziums. Während der Verhandlung stehen dem Angeklagten nun zwei Dolmetscher zur Verfügung, ein Türke und ein Christ. Außerdem beschließt man, den Gefangenen nach seinem Zusammenbruch nicht mehr allein in der Zelle zu lassen und gibt ihm zwei Kameraden an die Seite.
Doch von diesem Moment an verläuft keine Verhandlung mehr ordnungsgemäß. Die vom 23. Juli, einen Tag nach dem Unwohlsein, wird aufgehoben, weil der Gefangene zu schwach ist. Die am 29. wird wegen Kopfschmerzen vertagt. Bei den Verhandlungen am 27. und am 31. zeigt der Angeklagte sich so hilflos, dass die Inquisitoren ihn auffordern müssen, sich nicht von Verzweiflung übermannen zu lassen. Und warum schläft er weiterhin auf dem nackten Boden, wenn ihm doch eine ausgezeichnete Matratze zur Verfügung gestellt |157| wurde? Außerdem soll er endlich wieder essen! Ali verteidigt sich, das Essen sei kein Problem, ihm genügten ein paar Datteln und ein wenig Reis. Am 5. August erscheint er nicht zur Verhandlung, auch am 7. nicht. Die Inquisitoren suchen ihn in seiner Zelle auf: er liegt am Boden und weigert sich, zu sprechen. Der Oberinquisitor flüstert ihm ins Ohr: »Lass dich nicht ausgerechnet jetzt zur Hölle verführen, wo Gott dich auf christlichen Boden zurückgebracht hat. Und glaube ja nicht, es könnte dir helfen, dass du die Nahrung verweigerst.« Ali dreht ihm den Rücken zu.
Der Prozess wird verschoben, die Verhandlungen abgebrochen, der Hungerstreik macht das Fortfahren unmöglich. Zäh und unerschütterlich verteidigt sich Ali. Er ist Türke seit seiner Geburt.
Den Inquisitoren bleibt nichts anderes übrig, als ihn am Leben zu erhalten, soll er sich doch verteidigen wie er will. Sie haben seine Forderungen alle erfüllt, auch als sie nur darauf abzielten, Zeit zu gewinnen, und sie haben ihn vier Mal persönlich in seiner Zelle besucht. Zudem haben sie dem Arzt Anordnung gegeben, über den Gefangenen zu wachen, ihm Trost zu spenden und in allem behilflich zu sein.
Der Moment ist gekommen, die Anklageschrift aufzusetzen, mittlerweile sind genügend Beweise gesammelt. Am 10. August erhebt der oberste Richter formell Anklage gegen Ali Rais, beziehungsweise den Christen Guicciardino, vom heiligen katholischen Glauben abgefallen zu sein, um die Gebote der verfluchten, verdammten Sekte Mohammeds zu befolgen. Er fordert die Höchststrafe, die Exkommunizierung höchsten Grades, und in der Folge das Urteil der weltlichen Gerichtsbarkeit, welche die Höchststrafe, also den Tod, gegen ihn verhängen wird. Außerdem wird empfohlen, eine moderate Form der Folter einzusetzen, um ein Geständnis zu bekommen.
Ali weigert sich, die Anklageschrift zu lesen, er will nicht einmal einen der beiden Pflichtverteidiger benennen, die ihm vom Gericht angeboten werden. Noch weiß er nichts von den Zeugenaussagen zu seinen Lasten, die dem Richter ermöglicht haben, so schwere Strafen zu fordern. Die Inquisitoren wollen trotzdem weitere Zeugen befragen, um die Anklagepunkte zu erhärten. Zusätzlich zu den neun vorhergehenden werden zehn neue Zeugen einberufen, doch sie bringen keine entscheidenden, neuen Erkenntnisse.
Im November werden Ali die Zeugenaussagen zu seinen Lasten bekanntgegeben. Die Dolmetscher lesen sie ihm vor und übersetzen |158| Wort für Wort. Nur die Einzelheiten, an denen man die Zeugen identifizieren könnte, werden ausgelassen. Ali rückt keine Handbreit von seiner Position ab: Ich bin Türke und Sohn von Türken, wiederholt
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