Das Mysterium der Zeit
griffen, die sie schon ihr ganzes Leben lang am Gürtel trugen, doch abermals entdecken mussten, dass sie keine Waffen mehr besaßen.
|200| »Einen Moment mal!«, schrie Guyetus und hob den Arm. »Wir haben nicht die leiseste Ahnung, wie viel Zeit wir hier verbringen müssen. Die Hühner könnten uns eine Menge Eier geben. Ich schlage vor, zu warten und sie erst dann zu schlachten, wenn es wirklich nötig ist.«
»Besser heute ein Huhn als morgen ein Ei«, wandte Hardouin ein.
»Ich bestehe darauf: denkt an die Eier!«, wiederholte Guyetus.
»Ich denke dagegen an den Hahn«, erklärte Naudé streitlustig, die Augen gierig auf die Schenkel des einzigen Mannes im Hühnerhof geheftet.
»Ein Hähnchen von acht Tieren? Was für ein Unsinn! Dieses Vögelchen wird uns nicht mal die Zähne schmutzig machen«, entgegnete Hardouin, der zum ersten Mal ein entschlossenes Wesen an den Tag legte. »Wir sind zu zehnt und es gibt acht Hühner, also entweder alle oder keins!«
»Wir könnten uns vorerst auf vier beschränken: ein halbes pro Kopf ist besser als gar nichts«, schlug Barbello vor.
»Dann sparen wir uns den Hahn auf, der andere Hühner begatten könnte, wenn welche in der Nähe sind, und nehmen uns seine Freundinnen vor …«, warf Naudé in die Runde.
»Sieben Hühner für zehn Mäuler, das lässt sich schwer aufteilen, ich sehe schon, dass ich das Nachsehen haben werde, wie bei den Salamis des Kaplans«, jammerte Hardouin.
Den Schnabel und den stumpfen Blick mal auf diesen, mal auf jenen Redner gerichtet, verfolgte das Federvieh beunruhigt die Diskussion über sein Schicksal. Die gegnerischen Parteien taten ihre Meinung mit größerer oder minderer Heftigkeit kund, je nachdem, wie gründlich sie ihren Hunger hatten stillen können, indem sie ihre Rivalen bei der Verteilung der Salami im dunklen Keller des Kaplans mit irgendwelchen Tricks übers Ohr gehauen hatten.
»Ach, Schluss jetzt mit dem Diskutieren! Hunger ist Hunger«, mischte sich Kemal ein, einen großen trockenen Ast wie einen Knüppel schwingend. Der Statthalter hatte während der Jahre, in denen er mit Ali Ferrarese auf Kaperfahrt gegangen war, sicher weit mehr Erfahrung im Stehlen als im dialektischen Streitgespräch erworben.
»Schweig, du Renegat!«, befahl ihm Caspar Schoppe knurrend, welcher, nach dem erbitterten Tonfall zu urteilen, der hungrigste von allen sein musste.
|201| »Bitte um Vergebung, Verehrungswürdiger, aber gewisse Themen solltet Ihr vermeiden«, stichelte Naudé, da ja auch Schoppe mehrmals die Konfession gewechselt hatte.
»Dann nimm du dir ein schönes, großes Argument und steck es dir in …«
Doch Schoppes Anspielung auf die gefühlsmäßigen Neigungen Gabriel Naudés wurde durch ein abermaliges Geräusch unterbrochen.
Es kam von draußen und ähnelte erstaunlicherweise dem zuvor auf dem großen Platz gehörten Scharren. Wir verstummten alle schlagartig und sahen einander an, wobei in Augen und Mündern eine Hoffnung hindurchschimmerte, die die Form von Kämmen, Federn und Krallen hatte. Ein Hühnchen mehr hätte die Summe auf neun anwachsen lassen, also fast eines pro Kopf.
Nachdem er allen einen raubtierhaften, verschwörerischen Blick zugeworfen hatte, stürzte Kemal mit seinem Knüppel in der Hand aus dem Hühnerstall und verschwand auf der Treppe. Doch nach ein paar Sekunden, in denen wir auf einen Siegesschrei des Korsaren warteten, vernahmen unsere Ohren etwas ganz anderes:
»Ich muss doch sehr bitten, junger Mann! Ist das eine Art, sich vorzustellen?«, sagte eine liebenswürdige weibliche Stimme.
DISKURS XXIX
Darin man auf ein Gespenst stößt und über die Stadt auf der anderen Seite von Gorgona, Nusquama, oder wie immer sie heißen mag, gesprochen wird.
Staunend traten wir alle ins Freie. Kemal stand wie angewurzelt im Türrahmen des Ausgangs, kreideweiß im Gesicht. Ihm gegenüber, in etwa zehn Schritt Entfernung, ein Gespenst. Es schien in eine Art weiße Kutte gewickelt, doch als es näherkam, erkannte ich, dass es in Wirklichkeit mehrere Schichten unterschiedlicher Kleider übereinander trug, deren Farbtöne alle ins Weiß spielten und seiner im diffusen Morgenlicht fast irisierenden Erscheinung etwas Übernatürliches verliehen. Seine Schritte waren ein wenig zögernd, zuletzt konnte ich sein Gesicht erkennen: Es war eine junge Frau.
|202| Sie kam langsam, aber furchtlos auf uns zu, hob den Arm und grüßte uns lächelnd.
Als sie nur noch wenige Schritte von unserer dicht um Kemal gedrängten
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