Das Mysterium der Zeit
Gruppe entfernt war, fing sie ohne Umschweife an zu sprechen:
»Es gehört sich nicht, mit einem Messer in der Hand vor eine Dame zu treten«, sagte sie mit einer freundlichen, aber tonlosen Stimme.
Unsere zahlenmäßige Übermacht ließ jede Angst lächerlich erscheinen, doch das Auftreten dieser Frau, die einer Erscheinung gleichkam, hätte jeden erschauern lassen. Ich wandte mich um und sah, dass die anderen allesamt zu Marmorblöcken erstarrt waren. Kemal und sein Gefolgsmann hätten jede Frau ergreifen und ihr die schlimmsten Rohheiten antun können, doch hier oben in dieser windgepeitschten, verlassenen Festung wirkte dieses weißschimmernde Wesen wie aus dem Jenseits entsprungen.
Vielleicht hatte die Unbekannte unsere Furcht bemerkt, denn sie blieb stehen, als wollte sie uns beruhigen. Endlich konnte ich Details in ihrem Gesicht erkennen. Sie hatte feine, wohlproportionierte Züge, große dunkle Augen, eine hübsche runde Nase, einen vollen, aber fein gezeichneten Mund und lange rabenschwarze Haare, die zwar mit einem Kopftuch bedeckt, doch ein wenig zerzaust waren. Sie mochte etwa fünfundzwanzig Jahre alt sein. Gekleidet war sie in zwei oder drei übereinandergezogene weißliche Wolljacken und zwei Kleider, welche die Farbe hellen Kamelhaars hatten und einander ebenfalls auf seltsame Weise überlagerten. Trotz dieser sonderbaren Kleidung dachte ich, es könnte sich um eine Nonne in Klausur handeln: es war bekannt, dass in Gorgona früher männliche und weibliche Ordensgemeinschaften gelebt hatten. Da ich der einzige Toskaner war (außer dir, doch du warst jung und unerfahren), fühlte ich mich verpflichtet, sie als Erster anzusprechen.
»Schwester, ich bitte Euch«, hub ich in sanftem, respektvollem Ton an, »wir haben auf der Fahrt von Livorno nach Frankreich Schiffbruch erlitten. Wir wurden von Korsaren überfallen, dann ist unser Schiff in Flammen aufgegangen. Das Beiboot, auf dem wir uns vor dem Feuer gerettet haben, ist leider an den Klippen dieser Insel zerschellt. Und jetzt sind wir hier auf Gorgona, schiffbrüchig, aber in Sicherheit, nach dem Willen unseres Herrn Jesus Christus.«
»Das glaube ich gern, Cavaliere, dass Ihr an unseren Küsten Schiffbruch |203| erlitten habt«, antwortete sie in mitleidigem Ton. »Auf einer Seite haben wir Furten und Untiefen, auf der anderen furchterregende schroffe Klippen. Fast in der Mitte liegt dieser hohe Fels, auf welchem der Turm steht. Nur wir Bewohner von Nusquama kennen unsere Küsten, und sogar uns fällt es schwer, sie gefahrlos zu umschiffen!«
»Nusquama?«, fragten wir entsetzt.
»Ach ja, Ihr meint, Ihr wäret auf Gorgona. Alle, die auf dieser Insel an Land gehen, glauben das. Doch diejenigen, die hier ankommen, wollen meist nur Wasser holen und sofort weitersegeln. Sie dringen nie bis in die Stadt vor. Es ist sinnlos, ihnen erklären zu wollen, dass sie in Nusquama angelegt haben.«
Die ganze Gruppe richtete ihre Augen erwartungsvoll auf mich, um meine Meinung zu hören. War ich etwa nicht der Secretarius eines Cavaliere von Santo Stefano, eines Hauptmanns der Marine des Großherzogs der Toskana? Ich hätte also sehr wohl etwas über Nusquama wissen müssen!
»Der Name Nusquama ist mir neu«, sagte ich, »doch auch auf der Insel Elba zum Beispiel, die ebenfalls zum Hoheitsgebiet des Großherzogs gehört, dürfte es mehrere Ortschaften geben, deren Namen mir unbekannt sind.«
»Nun, Nusquama ist der Name, den wir, die Einwohner, ihr in unserem Dialekt gegeben haben«, erklärte die junge Schöne. »Ich bin eine arme, ungebildete Frau und weiß eigentlich gar nicht, wie unsere Insel im Großherzogtum genannt wird.«
Nachdem Kemal und Mustafa ihre anfängliche Furcht überwunden hatten, kommentierten sie bereits das anmutige Äußere unseres Gegenübers mit Gesten und zufriedenem Grunzen. Wir anderen, zwar weniger interessiert als die beiden Barbaresken, entweder, weil wir zu jung oder zu alt oder um ganz andere Erfordernisse besorgt waren, waren gleichwohl nicht blind und wussten den Anblick dieses jungen Gesichts voll der süßesten Harmonie durchaus zu schätzen.
Ich betrachtete ihre ganze Gestalt genauer: unter dem eigentümlichen Übereinander von Kleidungsstücken, die sie wie ein Peplos umhüllten, ahnte man einen schlanken, wendigen Körper, der jedoch alle Zeichen ausgewachsener, runder, ja recht fruchtbarer Weiblichkeit aufwies.
|204| »Ihr spracht von einer Stadt. Könntet Ihr uns dort hinführen, Schwester?«, fragte Hardouin
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