Das Mysterium der Zeit
Gewohnheiten. Die Menschen denken, handeln und glauben nicht im Vollbesitz ihrer eigenen Kräfte, sondern sind, ohne es zu bemerken, Vorbildern unterworfen, die Petronius, Seneca, Lukrez, Horaz, Vergil, Ovid und vor allem Platon und Aristoteles schufen. Alles Namen, die das Volk für die Angelegenheit weniger Gelehrter hält, aber in Wirklichkeit sind sie die Tyrannen der Welt, wie du durch den Ausgang unseres Abenteuers erkennen wirst.
Doch die Debatte konnte nicht zu Ende geführt werden, denn in diesem Moment hörten wir ein Geräusch auf dem kleinen Platz.
|196| DISKURS XXVII
Darin Jagd auf einen Bewohner der Torre Vecchia gemacht und dieser am Ende ergriffen wird.
Alle verstummten und erstarrten, als stünden sie urplötzlich in beißender Kälte.
Ein Rascheln, ein Trappeln oder vielleicht ein Scharren war vernehmlich von draußen auf dem kleinen Platz an unsere Ohren gedrungen. Die beiden Korsaren fuhren unwillkürlich mit der Hand zu den Dolchen, die sie unsichtbar, aber stets griffbereit zwischen Hemd und Gürtel zu tragen pflegen, erinnerten sich dann aber mit Bedauern, dass wir sie ihnen auf dem Boot abgenommen hatten.
»Und die Pistole?«, fragte Naudé.
»Nicht geladen, kein Schießpulver mehr«, antwortete ich.
Einige Minuten vergingen, auf dem Platz war es wieder ruhig. Dann erneut dieses Rascheln und wieder Stille.
»Wer ist da?«, schrie Kemal.
Niemand antwortete. Man hörte jedoch abermals jenes Scharren wie das Geräusch leiser Schritte, die sich entfernten und dann wieder innehielten.
»Gehen wir«, sagte Malagigi, die Hand auf den Griff des Messers gelegt, und machte der Gruppe ein Zeichen mit dem Kopf in Richtung auf den kleinen Platz vor dem Keller.
Zu fünft oder sechst traten wir über die Schwelle des Lagerraums, stiegen die Treppe hinauf und kehrten an die Oberfläche zurück. Der Platz lag so still und leer da, wie wir ihn vorgefunden hatten. Wir ließen unsere Blicke schweifen. Nichts. Die beiden Korsaren überprüften den gesamten Weg, der aus der Festung herausführte und kehrten ohne Ergebnis zurück. Auch auf dem Platz vor dem Eingang zur Torre Vecchia sei keine Menschenseele, sagten sie. Das geheimnisvolle Individuum musste sich demnach noch innerhalb der Mauern der Festung befinden. Hatten wir es vielleicht im Turm überrascht, und jetzt wusste es nicht, wie es sich verdrücken oder gegen uns wehren sollte? Es ist immer besser, Jäger zu sein als Gejagter und auf das Zuschlagen des Feindes warten zu müssen. Wir beschlossen also, uns über die Burg zu verteilen und dem Unbekannten nachzustellen. Eine schwierige Aufgabe, denn die Festung war mit ihrer bizarren, unregelmäßigen |197| Form, ihren engen Innenhöfen und den vielen winzigen, hintereinander gebauten oder wie kleine Höhlen an den zinnenbewehrten Turm geklammerten Behausungen in ihrer Gänze nahezu unmöglich zu überblicken.
Kam man aus dem Kirchlein und den Räumen des Kaplans, sah man sich zur Linken einem Abschnitt der gewaltigen Umfriedungsmauer und zur Rechten dem Turm gegenüber. Der Turm hatte drei Räume im Erdgeschoss, weitere drei im oberen Stockwerk und ebenso viele im Dachgeschoss. Alle Räume waren von der Soldateska des Großherzogs gründlich leergeräumt worden und enthielten außer ein paar alten Möbelstücken nichts Interessantes. Im dritten und letzten Stockwerk erwartete uns die erste Überraschung: Noch immer aufs Meer zielend, standen hier zwei alte Bombarden. Nach Meinung der Barbaresken waren sie noch voll funktionstüchtig. Von dem Individuum ohne Gesicht aber keine Spur.
Wir setzten die Erkundung fort, indem wir auf den Platz zurückkehrten. Von hier aus gelangte man rechts vom Turm in einen weiteren kleinen Hof, doch der Weg dorthin führte durch einen so engen Gang, dass ein Mann mittlerer Größe darin nur mühsam vorankam. Auf diesem nicht überdachten Platz, den wir den Kleinen Platz tauften, befand sich ein Ofen zum Brotbacken. Über dem Eingang zu einem kleinen Gelass stand MUNITIONI geschrieben – er war offenbar als Vorratsraum für Schießpulver benutzt worden. An seiner linken Wand öffnete sich eine Tür zu einem weiteren, langgestreckten offenen Hof, auf dem sich ein zweiter Brunnen befand. Die Wasserquellen von Gorgona schienen üppig zu sprudeln. Rechts führte ein Treppchen in einen großen, überdachten Lagerraum, an dessen Rückwand wir zwei Reihen hölzerner Bottiche erblickten, darunter einige mit Wein gefüllte. Wir hatten also noch mehr Weinvorräte, doch in
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