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Das Mysterium: Roman

Das Mysterium: Roman

Titel: Das Mysterium: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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bedeutet: ›Tue, was ihrem Nutzen und ihren Bedürfnissen entspricht. Ich vertraue
     dir nicht um deinetwillen, sondern um ihretwillen die Leitung an.‹ Christus wollte nicht für Petrus sorgen, als er ihm die
     Schafe anvertraute, sondern für die Schafe. So ist es doch mit jeder Herrschaft, auch mit der weltlichen. Sie ist zum Nutzen
     der Untertanen da. Um wieviel mehr ist dann die geistliche Führung im Interesse des Allgemeinwohls und nicht um der Ehre eines
     Kirchenfürsten willen gestiftet!«
    Der Inquisitor gab seinen Rittern ein Zeichen. »Und Ihr meint, Eure Hetzerei diene dem Allgemeinwohl, ja?« Die Ritter lenkten
     ihre Pferde zum Karren des Gelehrten hin. Sie kreisten ihn ein.
    Nemo schob Adelines Mutter hinter sich und entfernte sich einige Schritte. Wenn hier gleich die Ritter losschlugen, war es
     besser, nicht in Reichweite ihrer Schwerter zu sein. Andere Münchner, die ebenfalls neugierig lauschten, sahen sein Zurückweichen
     und taten es ihm nach.
    |346| William Ockham sagte: »Ich hetze nicht. Ich sage nur: Man erkennt einen Hirten daran, daß er seine Schafe behütet und hegt.«
     Er hob die Faust. »Der Papst sollte nicht fragen, was seines ist, sondern was den anderen zugute kommt. Er sollte nicht rächen
     und verfolgen, sondern hüten.«
    »Außer Euch scheinen sich nur wenige an ihm zu stören. Merkt Ihr nicht, daß Ihr allein gegen die ganze Kirche streitet? Nicht
     einmal Euer eigener Orden hält zu Euch.« Immer enger schlossen die Ritter den Kreis um Williams Karren. Zwei von ihnen stiegen
     ab und traten auf die Hühnerleiter zu.
    Die von Altersflecken übersäte Stirn des Gelehrten begann zu glänzen. Er schwitzte trotz der kalten Windböen. »Auf dem Generalkapitel
     von Perugia haben die Franziskaner in Mut und Gewissenstreue beschlossen, daß ein Papst die Festlegung seines Vorgängers nicht
     rückgängig machen kann, indem er sie einfach für falsch erklärt. Wir haben den Beschluß von Nikolaus in Abschrift vorzuliegen,
     und daran halten wir uns. In
Exiit qui seminat
hat er festgelegt, daß Eigentum und einfacher Gebrauch von Gütern verschieden sind; daß wir Franziskaner also einen Acker
     bebauen dürfen, ohne ihn zu besitzen, und dabei besitzlos bleiben.«
    »Ihr vergeßt da etwas, werter William. Die papsttreue Mehrheit Eures Ordens hat Geraldus Odonis zum neuen Generalminister
     gewählt und sich Johannes gebeugt.«
    »Weil sie eingeschüchtert wurden. Weil sie von Feigheit und Habgier angetrieben waren. Ich vertraue eher der Heiligen Schrift
     als dem fehlerhaften Stottern eines Laien. Johannes war Jurist, nicht Theologe, und das merkte man ihm an. Beweist mir mit
     Hilfe der Heiligen Schrift, daß die häretischen Aussagen des Pseudopapstes wahr sind. Dann rücke ich von meiner Position ab
     und akzeptiere auch seinen Nachfolger Benedikt.«
    Vom anderen Ende des Marktplatzes schritten kaiserliche Wachen heran. Immer mehr von ihnen strömten aus einem Eckhaus. Der
     Inquisitor bemerkte es. Er gab seinen Rittern einen warnenden Blick. »Warum sollte Gott wollen, daß ein |347| Papst seine Kirche anführt, der so verrucht und schlecht ist, wie Ihr meint? Gott würde das nicht zulassen.«
    Die Kaiserlichen sammelten sich neben dem Karren William Ockhams. Ihr Anführer gab einen Befehl, und sie zogen die Schwerter.
     William Ockham sagte: »Es ist Gottes große Stärke, daß er imstande ist, aus den üblen Taten der Menschen etwas Gutes zu machen.
     Den Niedergang der Päpste hat er erlaubt, weil er uns Willensfreiheit zugesteht. Und er gebraucht die schlechte Lage für etwas
     Gutes. Die vermessenen Päpste bewirken, daß Männer ihre eigene Trägheit abschütteln und die Bibel durchforschen. So bringen
     sie verborgene Wahrheiten ans Licht, die der ganzen Menschheit nützen werden.«
    »Ihr seid auf teuflische Art anmaßend, Ockham«, sagte der Dominikaner.
    »Glücklicherweise kann mich die Kirche dafür nicht bestrafen. Gratian hat festgelegt, daß die Kirche sich geistlicher Strafen
     enthalten soll, wenn jemand nicht ohne Gefahr für den Frieden der Kirche zu bestrafen ist:
Quando multitudo est in scelere, nec salva pace ecclesiae mala puniri possunt, tolleranda sunt pocius, quam violata pace ecclesiae
     punienda.
Und dieser Fall besteht bei mir und beim Kaiser.«
    »Ein unsicherer Boden, auf den Ihr Euch da verlaßt.« Der Großinquisitor wendete sein Pferd zum zweiten Karren hin und ließ
     es einige Schritte traben. Seine Ritter folgten ihm. Er warf über die

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